Zaubertricks

Der schrille, durchdringende Alarmton, der unverhofft die friedliche Stille des nächtlichen Flures durchdrang, ließ Beth für einen Moment zusammenfahren, und der plötzliche Schreck legte sich erst wieder, als sie aus der Welt ihres Romanheftchens in die Realität zurückgefunden hatte. Sie blickte kurz auf den Monitor zu ihrer Rechten, seufzte kurz auf und stellte den Alarmton ab. Dann erhob sie sich und begann, langsam den kalten Gang zu dem Zimmer hinunterzugehen, in dem das Rufzeichen ausgelöst wurde. Es war das letzte Zimmer auf der rechten Seite. Natürlich war es wieder dieses. Sie selbst empfand es als außerordentlich unglücklich, daß gerade zwei so unterschiedliche Naturen wie die Herren Wilson und Zucharsky ein Zimmer teilen mußten, aber die Station war bis auf das letzte Bett belegt, so daß es keine Möglichkeit gab, Wilson zu verlegen – abgesehen von der Alternative, ihn das Bett mit einem anderen Patienten tauschen zu lassen. Aber Beth war sich sicher, daß das Problem damit nicht gelöst, sondern nur verlagert werden könnte. Es würde dann halt jemand anders den Rufknopf drücken.

      Als sie die Tür des modernen Zweibettzimmers öffnete, war es das gleiche Bild wie immer: Wilson saß in seinem Bett wie die personifizierte Unschuld, während Zucharsky sehr verstört aussah und das Eintreten der Krankenschwester mehr als begrüßte.

      »Es geht schon wieder los, Schwester«, klagte er. »Er macht's schon wieder.«

      »Was ist los, Mister Wilson?« fragte Beth freundlich und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Machen Sie uns schon wieder Sorgen?«

      »Ach was, Sorgen«, platzte Wilson gereizt hervor. »Ich wollte es ihm nur erklären, aber er will es nicht kapieren, der störrische alte Sack!«

      Die Krankenschwester mußte unweigerlich schmunzeln, aber sie versuchte es zu verbergen, indem sie mit ihrem Zeigefinger an der Nase rieb. Wilson war in seinen Neunzigern und damit seinem Bettnachbarn um mehr als ein Jahrzehnt voraus, aber er war noch immer ein überaus rüstiger alter Mann. »Was wollten Sie Mister Zucharsky denn erklären?«

      »Jetzt fragen Sie ihn nicht auch noch!« stöhnte Zucharsky nicht ohne Entsetzen auf.

      »Na, da!« sagte Wilson euphorisch und deutete auf den kleinen Fernseher, der auf einem Metallarm an der gegenüberliegenden Wand befestigt war. »Sehen Sie doch selbst!«

      Die Schwester drehte den Kopf ein wenig und sah auf die Mattscheibe. Im eingestellten Programm lief eine Copperfield-Zaubershow. Beth kannte sie. Es war eine Wiederholung. Sie wandte den Blick wieder ab und sah erneut den alten Wilson an, während sie fragend ihre Augenbrauen hob.

       Unverhofft erwiderte der alte Mann den Blick. »Wollen Sie wissen, wie er's macht?« fragte er. In seinen Augen lag ein unergründliches Funkeln.

      Beth schmunzelte. »Glauben Sie, daß Sie wissen, wie seine Tricks funktionieren?«

      »Ich glaube es nicht, ich weiß es ganz einfach«, antwortete Wilson, der sich nun nicht mehr lange bitten lassen wollte. »Er benutzt einen Projektor. In dem Moment, in dem er mit der Frau hinter die Stellwand geht, schalten sie das Ding ein. Sie sehen die Silhouetten der beiden und denken, sie sind noch da, aber er ist mit der Frau hinter den Projektor gegangen und jetzt auf dem Weg um den Zuschauersaal herum, an dessen hinterem Ende er dann gleich wieder auftaucht.«

      »Spinnerei«, schnaubte Zucharsky und drehte sich demonstrativ auf die Seite.

      Beth sah wieder auf das Fernsehgerät. Der Trick war bereits vorbei, es lief nun ein Werbespot. Sie wußte aber genau, welche Nummer der alte Mann meinte. Sie selbst hatte sich bereits gründlich den Kopf darüber zerbrochen, aber Copperfield war für sie der Meister der Illusion; es gab scheinbar keinen Weg, hinter seine Geheimnisse zu kommen. Um so unvorstellbarer, daß ausgerechnet ein alter Mann, der auf ihrer Station lag, sie einfach so aus dem Ärmel schütteln sollte. »Sie wissen 'ne Menge über Zauberei, was?« fragte sie. »Sind Sie früher selber einmal Illusionist gewesen?«

      »Nein«, sagte Wilson.

      »Natürlich nicht«, unterbrach Zucharsky. »Ein Schwätzer ist er und mehr nicht!«

      »Ich habe mich mein Leben lang dafür interessiert«, fuhr der andere unbeirrt fort. »Und inzwischen kenne ich sie alle, die Tricks und Methoden. Nur den einen, den entscheidenden, verstehe ich bis heute nicht, obwohl alles nur deswegen meine Passion geworden ist.«

      »Wow ...« machte Beth und schien für einen kurzen Augenblick gedankenversunken. Das Geräusch der sich öffnenden Zimmertür riß sie aus ihrer kurzzeitigen Lethargie zurück. Sie drehte sich um und sah in das Gesicht ihres Kollegen Gerome, das dieser durch den Türspalt in den Raum geschoben hatte.

      »Alles in Ordnung, Beth?« fragte Gerome.

      Beth nickte kurz und winkte ihn mit einer knappen Kopfbewegung heran. Gerome war ein großer, stämmiger Indianer, der als Krankenpfleger angestellt war, aber augenblicklich nicht mehr zu tun hatte, als die Flure aufzuwischen. Zumindest brachte er einen Schrubber mit herein.

      »Heißt das, Sie kennen alle Zaubertricks?« nahm die Krankenschwester die abgebrochene Unterhaltung wieder auf.

      »Wer kennt alle Zaubertricks?« fragte Gerome.

      »Mister Wilson weiht uns gerade in die Copperfield'schen Geheimnisse ein. Er sagt, daß er alle Tricks kennt.«

      »Bis auf einen«, korrigierte Wilson nicht ohne hörbare Tragik über diesen Umstand.

      »Was denn?« fragte der Indianer sehr zweifelnd zurück. »Sie kennen alle Tricks von Copperfield?«

      »Nicht alle Tricks von Copperfield«, antwortete Wilson. »Ich sagte, ich kenne alle Tricks. Ob von Copperfield, von Houdini oder von sonst wem ist einerlei. Alle. Bis auf einen.«

      »Alle bis auf einen ...« wiederholte Gerome gedehnt.

      »Muß ja ein wirklich toller Trick sein, der eine«, meinte Beth und merkte noch während des Sprechens, daß der alte Wilson ihre Äußerung als sarkastisch auffassen könnte. Sie bemühte sich, schnell hinzuzufügen: »Ich meine, wenn Sie einfach alle anderen kennen ...«

      Wilson nickte stumm.

      »Was ist denn das für ein Trick, Sir?« fragte Gerome, der sich zwischenzeitlich auf den kleinen Tisch des Zimmers gesetzt hatte, den ansonsten nur eine winzige Blumenvase zierte.

      Wilson zögerte einen Moment und sagte dann: »Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen, und das ist schon verdammt lange her. Ich war noch ein Kind, und ich habe ... ah ...« Er suchte nach den richtigen Worten, offensichtlich ging es um mehr als bloß um den Trick eines selbsternannten Zauberers. Es ging um viel mehr. Er fingerte nach der Fernbedienung des TV-Gerätes und schaltete es ab. Dann starrte er vor sich auf die Bettdecke; sein Blick war so leer, als ob er in die hinterste Ecke seines Gedächtnisses sehen müßte.

      »Es ist 'ne Ewigkeit her«, sagte Wilson. »1929, um genau zu sein. Und ich weiß das noch alles, als ob es vorgestern gewesen wäre. Eine schlimme Zeit war das, es gab die große Wirtschaftskrise, mein Vater hatte seine Arbeit verloren und trotzdem 'ne vierköpfige Familie zu ernähren. Aber als Kind versteht man das alles noch nicht so richtig. Man kriegt schon mit, daß die Zeiten schlecht sind, doch da man selbst von den Zwängen der tragenden Entscheidungen und Verpflichtungen befreit ist, verliert auch die größte Not irgendwo ihren Schrecken. Vielleicht ist das der Grund, warum so viele Leute die Kindheit als die beste Zeit ihres Lebens ansehen, auch wenn sie noch soviel Elend erlebt haben. Jedenfalls, meine Freunde und ich, wir haben immer versucht, das Beste daraus zu machen. Und als der große Jahrmarkt kam, da schlug unsere Stunde. Heute ist so ein Jahrmarkt nichts als ein lauter Rummel, auf dem einem das Geld nur so aus der Tasche gezogen wird, auf dem sie dich beklauen, dich verprügeln oder dir mit schmierigem Fastfood den Anzug versauen. Aber damals war das anders. Es gab Attraktionen, die sehr viel schlichter waren als es heutzutage selbst eine Schießbude ist, aber ihnen allen haftete etwas an, etwas Magisches, eine seltsame Aura, die dich erfaßte, wenn du nur in die Nähe ihrer Holzverschläge kamst. Da war die Boxbude, in der du schnell 'nen Hunderter verdienen konntest, wenn du den hauseigenen, vierschrötigen Preisboxer auf die Bretter schicken konntest. Und hundert andere Leute bezahlten, um zuzusehen, wie er dir das Nasenbein brach. Als Kinder durften wir dort nicht hinein, aber in den kurzen Momenten, in denen die Vorhänge von der Eingangstür beiseite gezogen wurden, standen wir oft davor. Wir atmeten die warme Luft, die aus der Bude strömte und die nach Rauch und Schweiß roch und sahen voller Faszination auf den einfachen Boxring, den eine einzelne Glühlampe in ein gefährlich wirkendes Zwielicht hüllte. Der Preisboxer verlor nie. Aber dennoch gab es immer wieder Leute, die es versuchen wollten und die am Ende allzu häufig hinausgetragen werden mußten. Sie alle unterlagen der gleichen Magie wie wir.

      Gleich nebenan gab es die Sideshow. Der Besitzer stand draußen vor, auf 'ner einfachen Rampe aus Brettern, und versuchte, die Leute hineinzulocken. Neben ihm standen zwei Frauen, die an den Köpfen zusammengewachsen waren, und auf 'ner Menge bunter Schilder ließen wilde Zeichnungen erahnen, welche Gestalten sonst noch die eigentliche Vorstellung bestreiten würden: es gab 'nen Kerl, der aussah wie der leibhaftige Werwolf und eine unglaublich fette Frau, an der das Fleisch hing wie schmelzendes Wachs an 'ner Kerze. Es war alles da, was man sich in seiner Phantasie an Deformationen und Absurditäten vorstellen kann. Nur, als Kind reicht deine Vorstellungskraft vielleicht noch nicht so weit, und dann wird die Realität noch viel gruseliger. Pokey sagte damals, daß er mal drin gewesen sei und alles weniger spektakulär anzusehen gewesen war, als die bunten Plakate das glaubhaft machen wollten. Der Werwolf war eigentlich nur ein ziemlich behaarter Kerl, und der Riese, der auf den Bildern zwischen Mini-Häuschen spazierte, war zwar schon recht groß gewesen, aber Pokey meinte, daß der Typ, der gegenüber die gerösteten Erdnüsse verkaufte, auch nicht wesentlich kleiner war. Und den durfte man begaffen, ohne dafür zahlen zu müssen. Überhaupt, meinte er, könnte man nicht genug erkennen, weil es in der Bude ziemlich düster zuginge, was seiner Ansicht nach ein offensichtlicher Beweis dafür sei, daß hier und da vielleicht auch etwas gemogelt wurde. Ich selbst hätte mir das auch mal gerne angesehen, aber ich hatte immer meinen kleinen Bruder im Schlepp, und da ich wußte, daß Rabbit sich schon beim Betrachten der Werbung ängstlich hinter meinen Rücken verzog, verzichtete ich darauf, um ihm das zu ersparen. Rabbit hieß eigentlich Rudyard, aber niemand nannte ihn so. Er hatte ein großes Feuermal auf der Stirn, direkt über dem linken Auge, das die Form eines rennenden Kaninchens hatte. Selbst meine Eltern sagten daher Rabbit zu ihm, und es gab Leute in der Nachbarschaft, die seinen wirklichen Vornamen noch nicht einmal kannten.

      Was wir aber eigentlich alle auf dem Jahrmarkt mochten und was uns Tag für Tag dorthin zog, das war die Bude des Zauberers, über deren Eingang ein riesiger, schwarzweißer Zauberstab aufgehängt war. Er hatte 'nen italienischen Namen, weiß nicht mehr, jedenfalls irgendwas mit 'nem ›I‹ am Ende, und er sah aus, wie man sich einen richtigen Zauberer so vorstellt, komplett mit Frack, Zylinder und 'nem Umhang, für den Graf Dracula persönlich durch die Sonne gelaufen wäre. Er hatte auch jemanden, der die Zuschauer für ihn gewinnen sollte, einen kleinen Kerl mit 'ner buntgestreiften Weste und 'nem Strohhut, der lautstark die Kunst des Zauberers pries, und jedes zweite Wort, das er benutzte, war ›sensationell‹ oder ›atemberaubend‹ oder ›verblüffend‹. Direkt an dem kleinen Kassenhäuschen, das sich am Eingang der Bude befand, war eine hölzerne Uhr angebracht, anhand der man den Beginn der nächsten Vorstellung ablesen konnte. Zweimal pro Stunde, denke ich. Und wir drei, wir waren besessen davon, seine Tricks zu sehen. Ich seh' uns noch auf den langen, lehnenlosen Bänken aus rohem Holz hocken und an den Schultern der vor uns Sitzenden vorbei auf die etwas erhöhte Bühne starren. Der Zauberer beherrschte all das, was wir heute eher als Klassiker ansehen würden, also die Tauben aus dem Hut, das endlose Tuch aus dem Ärmel oder der Zauberstab, der sich in einen Blumenstrauß verwandelt. Viel aufregender fanden wir aber auch damals schon solche Nummern wie die mit dem Mädchen, das in der Kiste liegt und scheinbar in zwei Teile zersägt wird. Oder, noch spektakulärer, das in dem großem Weidenkorb kauert, in den der Zauberer dann lange Dolche steckt. Ich weiß noch, wie Rabbit unter den gekünstelten, spitzen Schreien des Mädchens zusammenzuckte und sehe Pokeys kritischen Gesichtsausdruck, in dem nur eine einzige Frage stand: ›Wie um alles in der Welt macht er das?‹

      Uns war natürlich klar, daß der Mann da vorne nicht wirklich zaubern konnte. Es waren Tricks. Und die eigentliche Zauberkunst bestand nur darin, den Trick nicht als solchen erkennen zu lassen. Jeder wollte wissen, wie er es machte – und wir drei fanden es heraus. Das ging nicht von jetzt auf gleich. Es dauerte lange. Manchen Tricks kamen wir sehr schnell auf die Schliche, anderen zunächst gar nicht. Und so besuchten wir seine Vorstellungen. Eine nach der anderen. Und wir sahen ihn ein ums andere Mal seine Tricks vorführen, die uns schon längst vertraut waren. Manchmal machte er einen kleinen Fehler, der ein bißchen von seinen Geheimnissen preisgab; zum Beispiel sägte er einmal an der Kiste, in der seine Assistentin so sehr zappelte, daß ihr fast ihre schwarzen Schuhe von den Füßen glitten. Doch als er sie hinterher wieder zusammengesetzt hatte und sie unter Applaus in einem Stück heraussprang, waren ihre Schuhe weiß. Ich glaube nicht, daß irgend jemand das bemerkt hat, aber Pokey sah es, und in dem Moment wußten wir, daß in der Kiste immer zwei Mädchen lagen – einer gehörte der Kopf, der anderen gehörten die Füße. Und in der Mitte ging das Sägeblatt an beiden vorbei.

      Ich sagte ja bereits, daß die Zeiten damals schlecht waren und unsere Eltern jeden Penny zweimal umdrehen mußten; Pokey ging es da zu Hause nicht anders. Wahrscheinlich fragen Sie sich, wie wir es uns denn leisten konnten, immer wieder die Zaubervorstellungen zu besuchen. Nun, wir kamen auf die Idee, aus unserer Leidenschaft ein sehr einträgliches Geschäft zu machen: wir verkauften den Leuten die Auflösungen seiner Tricks!«

      »Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte Zucharsky plötzlich schroff, während er seine dürren, weißen Beine aus dem Bett schwang und seine Füße in karierten Filzpantoffeln verschwanden. »Wenn ich eh nicht schlafen darf, dann kann ich auch genausogut noch eine rauchen gehen. Außerdem entgehe ich dadurch auch gleich«, er machte eine wegwerfende Handbewegung in Wilsons Richtung, »dem da!«

      Beth wartete, bis der Mann das Zimmer verlassen und die Türe hinter sich geschlossen hatte. Dann setzte sie sich auf Zucharskys Bett und sah den Mann auf dem anderen Lager fragend an. Wilson hüstelte und griff nach dem kleinen Glas, das auf seinem Nachttisch stand. Es war leer. Beth beeilte sich, die Wasserflasche hervorzuholen, die sich unter dem kleinen Tischchen befand und ihm das Glas zu füllen. Wilson leerte es mit einem kräftigen Zug, und sie schenkte ihm noch mal nach. Es brannte ihr auf der Zunge, den alten Mann zu fragen, was weiter geschehen war, aber er würde das, was er wußte und zu sagen hatte, schon erzählen. Sie wollte ihn nicht bedrängen. Auch Gerome schwieg. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und in seinen dunklen Augen funkelte die Neugierde.

      »Wir kamen sehr schnell dahinter«, fuhr Wilson schließlich fort, »daß es keinen Sinn machte, den Menschen zu erzählen, wie die Zaubertricks funktionierten, denn sie wollten uns grundsätzlich kein Geld geben, bis wir es ihnen nicht gesagt hatten. Andersherum funktionierte es auch nicht, denn nachdem wir es ihnen erklärt hatten, wollten sie auch nicht bezahlen, da sie unsere richtigen Lösungen nicht glauben wollten oder uns kurzerhand sagten, daß sie es schon vorher gewußt hatten. Also machten wir es anders: wir schrieben die Lösungen auf und steckten sie in verschlossene Briefumschläge, die wir wiederum verkauften. Und das klappte vorzüglich. Wir brauchten nicht mehr zu tun, als vor der Zauberbude zu warten und die Menschen, welche die Vorstellung verließen, zu fragen, ob sie wissen wollten, wie der eine oder andere Trick funktionierte. Für einen Nickel, das war nur ein Viertel von dem, was der Eintritt in die Zaubershow kostete, gingen unsere Umschläge so schnell weg, daß wir mit dem Schreiben kaum nachkamen und am Ende sogar unseren Preis auf 10 Cents erhöhen konnten. Ich habe mich lange gefragt, ob der Zauberer selbst gar nicht mitbekommen hat, daß wir unmittelbar vor der Bude seine ganzen Geheimnisse verscherbelt haben, aber inzwischen glaube ich, daß er es sehr wohl wußte. Doch was sollte er tun? Sicher, er hätte uns verscheuchen können, aber dann hätten wir unsere Umschläge eben ein paar Meter weiter verkauft. Vermutlich hat er aber schnell gemerkt, daß ihm unsere kleine Tätigkeit nicht schadete, sondern kurioserweise sogar noch höhere Besucherzahlen bescherte, denn viele Leute gingen nun noch einmal in seine Show, eben weil sie nun wußten, wie er die Tricks bewerkstelligte.

      Die letzte Woche des Jahrmarktes war angebrochen, und dies waren die Tage, die alles verändern sollten. Es begann damit, daß eines Morgens eine neue Schaubude aufgebaut wurde. Wir hatten die kleine Lastwagenkolonne schon die Main Street hinunterfahren sehen, als wir noch auf dem Weg zum Jahrmarkt waren und ursprünglich gedacht, daß die ersten Schausteller ihre Zelte bereits abgebrochen hätten, aber tatsächlich kam nun, für die letzten Tage, noch ein Neuankömmling hinzu. Der Aufbau seiner Bude dauerte beinahe einen ganzen Vormittag, obwohl auch diese nur eine einfache Konstruktion aus Holz und Segeltuch war wie alle anderen. Offensichtlich gab es hier aber auch eine größere elektrische Installation, zumindest führte schließlich ein elektrisches Kabel in den Verschlag, das so dick war wie der verdammte Oberschenkel eines Elefanten. Der neue Schausteller hieß Citerszpiler. Pokey wollte gehört haben, daß er aus Ungarn stammte. Und Citerszpiler war ein Zauberer. Er hatte natürlich nur einen Platz am äußersten Rand der Wiese bekommen und war somit eigentlich weit genug von seinem Kollegen entfernt, ohne dadurch eine direkte Konkurrenz darzustellen, wobei es einen Wettbewerb im eigentlichen Sinne sowieso nicht gab. Im Vorjahr hatte es gleich drei Wahrsagerinnen gegeben, und sie waren scheinbar alle zufrieden genug gewesen, um in diesem Sommer allesamt wiederzukommen. Und so war es auch hier: wer sich für Zaubershows interessierte, der besuchte im Zweifelsfalle eben alle beide. Trotzdem schien Citerszpiler die etwas besseren Karten zu haben, denn die gleichen Leute, die erstaunt aus der Vorstellung unseres Italieners kamen, waren begeistert, nachdem sie seine Show gesehen hatten – und ich habe Menschen beobachtet, die sich wieder um eine Eintrittskarte anstellten, kaum daß sie seine Bude verlassen hatten. Unser nettes Geschäft hatte mit Ankunft des neues Zauberers eine kleine Lücke bekommen, denn es kam nunmehr häufiger vor, daß wir unsere Auflösungen anboten und sich die Leute auch dafür sehr interessierten – aber eben in erster Linie für solche, die Citerszpiler betrafen und die wir natürlich nicht im Angebot hatten. Es war klar, daß wir nicht untätig bleiben durften. Wir kauften uns Karten und sahen uns seine Vorstellung an.

      Seine Show war toll. Sie ist mir im Gedächtnis haften geblieben, und das trotz dieser schrecklichen Sache, die noch geschehen sollte. Damals waren solche Schaubuden eigentlich nichts anderes als Miniaturausgaben von Theatersälen; in der Regel gab's 'ne erhöhte Bühne und davor den Zuschauerraum. Das ließ den jeweiligen Zauberern natürlich immer 'ne Menge Freiraum für ihre Tricks, denn sie wußten ja auch, daß die Zuschauer sie eben nur von vorne sehen konnten. Niemand konnte mit Bestimmtheit sagen, was zum Beispiel hinter dem Illusionisten vor sich ging, und keiner in der Menge sah jemals seine Hemdsärmel von der Seite, während er bunte Kugeln in seinen Händen erscheinen ließ. Diese Erkenntnis half uns damals bei der Auflösung vieler Tricks, und wir erwarteten von Citerszpiler nichts anderes. Doch es war anders. Sein Zuschauerraum war rund, und seine Bühne lag in der Mitte, ganz so wie die Manege in einem Zirkus. Man konnte sie von allen Seiten einsehen, es gab keine Vorhänge und keine Dekorationen, die den Blick verstellten. ›Mann‹, sagte Pokey damals noch, ›der muß wirklich gut sein, wenn er sich das traut.‹ Was er auch noch hatte, waren Unmengen an Glühbirnen. Beinahe jede Jahrmarktbude hatte natürlich auch zu dieser Zeit schon elektrisches Licht, aber die meisten hatten eine oder zwei Lampen. Citerszpiler hatte Hunderte davon. Sie bedeckten die Wände, hingen an langen Leitungen, die kreuz und quer durch den Raum gespannt waren, und an der Decke der Bude waren kleinere Lämpchen angebracht, die sie so spektakulär erstrahlen ließen wie den nächtlichen Sternenhimmel. Und schließlich hatte er irgendeine Einrichtung, die für frische und kühle Luft sorgte, was auch dringend notwendig war, da die ganzen Lampen 'ne ziemliche Hitze entwickelten. Ich hab' keine Ahnung, wie er das Problem in den Griff gekriegt hat, es war nämlich richtig kühl da drin. Heute würde man auf 'ne Klimaanlage schließen, aber so was war früher noch eine echte Rarität. Vielleicht hatte er riesige Eisblocks, über die er ein Gebläse pusten ließ, ich hab' keinen Schimmer. Jedenfalls war uns allen schnell die Bedeutung des dicken Stromkabels draußen klar geworden. Als die Show dann anfing und Citerszpiler selbst auf der Bühne erschien, war ich im ersten Moment etwas enttäuscht, denn er sah eigentlich mehr schlicht und unscheinbar aus. Er hatte noch nicht mal irgendein Kostüm an, sondern trug einen eleganten, grauen Anzug. Das Ungewöhnlichste an ihm war so gesehen sein Gehstock, aber der gehörte nicht zur Show, sondern war eine echte Gehhilfe. Er hatte ein steifes Bein. Die Zaubershow war dann etwa eine Viertelstunde lang mehr eine Lichtshow, vielleicht eine der ersten ihrer Art. Die hellen Lichter an den Wänden gingen aus, und dafür erstrahlten jetzt die Glühbirnen über unseren Köpfen. Viele Leuchten waren lackiert, es gab blaue und gelbe und rote und so weiter. Mal gingen sie rhythmisch an und aus, mal schien das Licht über die Decke zu wandern, und Citerszpiler stand in der Mitte, klammerte sich mit einer Hand an seinen Stock und wedelte mit der anderen in der Luft herum, ganz so, als ob er das Licht dirigieren wollte. Neben ihm stand auf einem kleinen Tischchen ein Grammophon, das eine Platte mit irgendeinem bombastischen Orchesterwerk abspielte, während das Licht im Takt antwortete, flackerte, bald beinahe verlosch und bald zu unglaublicher Helligkeit zurückfand. Dies alles war sehr eindrucksvoll, obwohl es natürlich mit Zauberei recht wenig zu tun hatte. Rabbit zumindest starrte mit großen, kugelrunden Augen um sich, sein Mund stand offen, und seine Hand krallte sich nicht ohne einen Rest von Furcht in meine. Und dann führte Citerszpiler seinen Trick vor. Er führte seinen einzigen Trick vor.«

      Wilson holte nochmals tief Luft und starrte auf das Fenster, hinter dem die Nacht wie ein schwarzer Seidenschal lag. Niemand sagte etwas. Gerome hatte noch immer die Arme vor seiner Brust verschränkt, und Beth hatte begonnen, auf ihre Unterlippe zu beißen, während sie vorsichtig die Hand des alten Mannes hielt.

      »Als die Musik verstummte, wurde von der Decke eine gläserne Kiste heruntergelassen«, fuhr er schließlich fort. »Sie war etwa so groß wie 'ne heutige Telefonzelle, aber sie war mehr zylindrisch als eckig. Das Ding war vollständig durchsichtig, bis auf die wenigen dünnen Streben, an denen die einzelnen Glasscheiben aufeinandertrafen und bis auf das Teil, das den Deckel bildete und an dem sich neben ein paar Kabeln das starke Drahtseil befand, das die Zelle jetzt sanft auf dem Boden aufsetzen ließ. Diese Zelle sah unglaublich aus, obwohl sie damit auf irgendeine befremdliche Art deplaziert erschien. Haben Sie schon mal einen Gegenstand als deplaziert empfunden? Einen Stahlrohrstuhl in einem Biedermeierzimmer? Oder Turnschuhe zum Abendkleid? Nun, diese gläserne Zelle war das Requisit eines Illusionisten, aber so sah sie nicht aus. Das Glas war so gleichmäßig und fehlerlos, wie es eigentlich nicht sein konnte, und die silbrige Oberfläche der metallenen Komponenten war glänzend und makellos. Es gab keine Nieten, keine Schweißnähte, keine Kratzer und keinen Rost. Es waren auch keine Sterne daraufgemalt oder bärtige Magier mit Zipfelmützen. Möglicherweise können Sie sich diese Besonderheit heute nicht mehr vorstellen, in einer Zeit, da dies alles völlig normal ist. Aber 1929 hatten sogar die gezeichneten Helme der Raumfahrer auf den Titelseiten der Groschenheftchen Schrauben, und auch die Untertasse vom Mars war auf irgendeine subtile Art greifbar. Dieses Ding jedoch war es nicht. Es gehörte nicht hierher. Nicht an diesen Ort. Nicht in diese Zeit. Vielleicht nicht einmal in diese Welt.

      ›Was ist das für ein Ding?‹ fragte Rabbit, aber ich wußte keine Antwort, und so sahen wir beide zu Pokey hinüber, der selber voller Faszination nach vorne schaute und mehr nebenher sagte: ›Ich glaube, er läßt jemanden verschwinden.‹

      Citerszpiler fragte, ob ihm jemand aus dem Publikum assistieren wollte. Er hatte einen fürchterlichen Akzent und mußte ein zweites Mal fragen, bis sich zögerlich ein Mann meldete, der ein paar Reihen hinter uns saß. Der Zauberer bat ihn nach vorne, fragte ihn kurz nach seinem Namen und sagte ihm dann, daß er in die Zelle gehen sollte.

      ›Jetzt kommt ein Tuch drüber‹, sagte Pokey, der alles Kommende schon sicher durchschaut zu haben schien.

      Aber das geschah nicht. Citerszpiler schloß die Tür der Zelle, die keinen Knauf hatte – und ich vermochte nicht mehr zu sagen, an welcher Stelle sie sich befand – dann straffte sich plötzlich das Drahtseil, und die gläserne Kiste wurde etwas in die Höhe gezogen – nicht viel, einen Meter vielleicht. In ihr glommen helle Leuchten, so daß sie selbst wie eine überdimensionale Glühbirne wirkte, und das Gesicht des Mannes, der sich in ihr unbeholfen an den glatten Glaswänden abstützte, wurde von Augenblick zu Augenblick bleicher.

      Und dann, plötzlich, erstrahlte der gesamte Raum in einem grellen, blauweißen Licht, das in den Augen schmerzte und das an den Magnesiumblitz der Fotografen erinnerte. Als es erlosch, erschien mir die normale Beleuchtung wie eine abgrundtiefe Dunkelheit, bunte Farbkleckse tanzten vor meinen Augen. Dies dauerte nur einen Moment, und als er vergangen war, war der Mann in der Zelle weg! Er war verschwunden, als ob es ihn niemals gegeben hätte. Der Zuschauerraum war erfüllt von einem erregten Stimmengewirr; manche Leute standen von ihren Plätzen auf, so als ob sie eine Bestätigung für den offensichtlichen Umstand suchten, daß die Zelle leer war. Citerszpiler hinkte derweil um den leuchtenden Glaskasten herum, und in dem Moment, da er ihn vollständig umrundet hatte, kam ebenso unerwartet wie beim ersten Mal der grelle Lichtblitz wieder – und mit ihm kam der Mann zurück, nicht weniger bleich, nicht weniger angsterfüllt, aber auch nicht weniger real. Die Zelle wurde wieder heruntergelassen, der Zauberer fand und öffnete die immer noch nicht zu erkennende Tür, und der Mann stieg aus. Seine Knie schlotterten, und es kostete ihn große Anstrengung, halbwegs aufrecht zu seinem Platz zurückzukehren.

      Das Ende der Vorstellung bedeutete für uns den Anfang des Grübelns. Üblicherweise führten Illusionisten den Verschwindetrick mit einem Eingeweihten durch, denn irgendwohin verschwand der Betreffende ja tatsächlich immer, sei es hinten hinaus jenseits des Vorhanges oder durch eine verstecke Luke im Boden. Ein vermeintlich Freiwilliger würde hierbei natürlich zwangsläufig hinter die wohlgehüteten Geheimnisse des großen Meisters kommen können, was dieser aus naheliegenden Gründen als weniger erstrebenswert ansah. Nach Pokeys Meinung konnte dieser Schluß im Falle von Citerszpiler’s Trick nur zwei Lösungen gestatten: entweder gehörte der Freiwillige zur Show, oder die Person in der Zelle verschwand erst gar nicht, und das Publikum wurde durch irgendeine optische Täuschung in dir Irre geleitet. ›Irgendwas mit Spiegeln oder so‹, orakelte Pokey, ohne eine Theorie über die Ausführbarkeit eines solchen Unterfangens aufstellen zu können. Aber statt dessen hatte er einen Plan, wie wir ihm auf die Schliche kommen konnten: ›Wir gehen einfach noch mal in die Vorstellung‹, sagte er. ›Habt ihr gemerkt, wie die Leute zögern, wenn er nach einem Freiwilligen fragt? Angenommen, wir drei sitzen an verschiedenen Stellen im Zuschauerraum und melden uns sofort, dann müßt ihr doch zugeben, daß die Wahrscheinlichkeit, daß ihm einer von uns assistieren darf, ziemlich hoch ist, oder?‹

      ›Und was, wenn nicht?‹ fragte Rabbit noch zurück, dem das alles offenbar wenig behagte.

      Aber Pokey hob nur abfällig die Schultern. ›Naja, wenn der gleiche Kerl ausgesucht wird, den wir eben gesehen haben, dann ist das 'ne abgesprochene Sache. Dann müssen wir weitergrübeln. Aber zumindest können wir dann schon mal die andere Variante abhaken.‹

      Ich wußte damals, daß ich Rabbit damit eine ganze Menge zumutete, allein schon durch die Tatsache, daß wir getrennt voneinander unter den Zuschauern sitzen sollten. Kaum auszudenken, was in ihm vorgehen würde, wenn der Zauberer dann auch noch ausgerechnet ihn auswählen sollte. Aber ich hatte keinen anderen Vorschlag, und Rabbit draußen vor der Bude allein warten zu lassen, erschien mir noch viel gewagter. Hätte ich damals gewußt, was geschehen sollte, hätte ich niemals, niemals so eindringlich auf ihn eingeredet, wie ich es dann tat. Und es kostete 'ne gehörige Menge Überredungskraft, meinen verängstigten Bruder umzustimmen, das können Sie mir glauben. Ich sagte ihm damals, er solle sich einfach nicht melden, dann würde er auch nicht Gefahr laufen, ausgewählt zu werden. Pokey brauchte das nicht zu wissen, und außerdem hielt ich die Wahrscheinlichkeit, aufgerufen zu werden, auch so noch für mehr als hoch, wenn sich in einem Raum voller zögernder und unsicherer Menschen nur zwei Jungs spontan melden würden.«

      Der alte Wilson hielt nochmals inne. Augenscheinlich fiel ihm das Reden immer schwerer, aber es war nicht ersichtlich, ob dies am bloßen Umfang seiner Ausführungen lag, oder ob es nicht vielmehr der für ihn so bedeutungsschwere Inhalt war, der ihm zu schaffen machte.

      Gerome bemerkte es und rutschte ein wenig von dem kleinen Tischchen herunter. »Beth?« sagte er leise, um die Krankenschwester auf die Agonie des alten Mannes aufmerksam zu machen.

      Beth wandte ihm ihr Gesicht zu, das gezeichnet war von einer merkwürdigen Mischung aus Müdigkeit und Mitgefühl, aber in ihren Augen stand der Ausdruck von Hilflosigkeit, nachdem ihre Neugierde über die bloße Vernunft obsiegt hatte. »Ist Ihrem Bruder etwas passiert?« fragte sie und sah Wilson dabei sorgenvoll an.    Ihre Hand hielt noch immer die seine umklammert, doch sie merkte, wie sie ihr durch ihren Schweiß langsam entglitt. Wilson seufzte tief. Er hatte seine Geschichte beinahe beendet, lediglich der letzte Teil stand noch aus. Aber es war gerade dieser letzte Teil, der besonders schwer auf ihm lastete.

      Endlich sagte er: »Wir besuchten also nochmals die Vorstellung, und ich ging zusammen mit Rabbit zu einem Platz in der unmittelbaren Nähe des Einlasses direkt am Gang, von dem aus er noch etwas Tageslicht sehen konnte. Ich hoffte, daß ihn dies ein wenig von seiner Angst befreien konnte. Zudem setzte ich mich selber nur ein paar Meter weiter jenseits des Ganges hin, so daß wir stets Blickkontakt halten konnten, sofern die Beleuchtung innerhalb des Raumes dies zuließ. Pokey nahm auf der gegenüberliegenden Seite der Bühne Platz; ihn sah ich überhaupt nicht, und so war es zu vermuten, daß er den kleinen Bluff mit Rabbits ausbleibender Meldung gar nicht bemerken würde.

Dann begann die Show, und es war eine haargenaue Kopie der ersten, die wir gesehen hatten, von den wilden Lichtspielen bis zu dem Moment, da sich die leuchtende Kapsel von der Decke herabsenkte. Und dann, endlich, fragte Citerszpiler nach einem Assistenten. Seine Aussprache erschien mir noch schlechter als zuvor, und sein starker, osteuropäischer Akzent ließ 'ne ganze Menge verschiedener Deutungen seiner Worte zu. Ich zögerte einen kleinen Moment, und in dem Augenblick, in dem ich meine Hand hob, hörte ich vom anderen Ende des Zuschauerraumes Pokey’s Stimme, die ›Hier!‹ rief und so Aufmerksamkeit erheischen wollte. Die Menschen, die um mich herum saßen, sahen mich so erstaunt an, als ob in ihren Augen die vermeintlich zaglose Entschlossenheit eines Kindes das eigentlich Magische an dieser Vorführung sein könnte und nicht die Augenwischereien, Illusionen und Tricks des tatsächlichen Zauberers. Citerszpiler sah mit einem seltsam abwesend wirkenden Blick über mich hinweg. Er stierte einfach nur über die Köpfe seines Publikums, und in diesem Moment war ich mir ziemlich sicher, daß sich gleich wieder sein altbekannter Gehilfe auf die Bühne begeben würde. Tatsächlich wiederholte Citerszpiler seine Frage erneut, ganz so, als ob es Pokey und mich gar nicht gegeben hätte. Vielleicht war er es aber auch ganz einfach nur gewohnt, sich zu wiederholen, weil er wußte, daß die Leute ihn schlecht verstanden. Ich hielt meine Hand noch immer nach oben gereckt, Citerszpiler’s Blick glitt über die Menge dahin, und dann sagte er: ›Bitte der Junge dort!‹

      Ich kann seinen merkwürdigen, gebrochenen Akzent gar nicht richtig nachmachen, es klang scharf und irgendwie mit völlig falscher Betonung. Er sah mich nicht an dabei, aber er sah auch nicht zu der Flanke hinüber, an der Pokey saß. Ich folgte seinem Blick und drehte meinen Kopf etwas zur Seite. Dann sah ich Rabbit, und Rabbit sah auch mich an, in seinem Gesicht stand das nackte Entsetzen. Und ich sah seine kleine, zitternde Hand, die er bis auf Schulterhöhe gehoben hatte. Ich hab' keinen blassen Schimmer, was ihn bewogen hat, das zu tun. Ich denke, daß er mir vielleicht zeigen wollte, daß er nicht wirklich feige und verängstigt war sondern auch genügend Tapferkeit aufbringen konnte, wenn es darauf ankam. Aber mit Sicherheit wäre ihm bedeutend wohler in seiner Haut gewesen, wenn der Krug trotz allem an ihm vorbeigegangen wäre. Doch so war es nicht.

      Citerszpiler hinkte ein paar Schritte auf Rabbit zu. ›Applaus!‹ forderte er, und die Menschen klatschten amüsiert.

      Dann nahm er meinen Bruder bei der Hand und zog ihn von seinem Platz so gut er konnte, ohne dabei den Halt seines Gehstockes und damit auch das Gleichgewicht zu verlieren. Sie gingen beide langsam zur Bühne hinüber. Citerszpiler, weil er ob seines Gehfehlers nicht schneller konnte und Rabbit, weil er sich wohl innerlich sträubte und seine Beine womöglich ihrem Dienst nicht zur Genüge nachkommen wollten. Als sie gemeinsam vor der gläsernen Zelle standen, ließ der Zauberer ihn los und strich mit seiner nun freien Hand an einer der Streben entlang, worauf sich unversehens die verborgene Tür öffnete. Rabbit kletterte erstaunlich zügig hinein, ganz so, als ob er sich seinem Schicksal ergeben hätte, aber als Citerszpiler die Zelle wieder schloß und sie schwankend in die Höhe gezogen wurde, sah ich den hilfesuchenden Blick in seinen angstvoll geweiteten, kugelrunden Augen, die wie kleine, schwarze Löcher in seinem aschfahlen Gesicht aussahen, und sein rotes Feuermal wirkte so grell wie eine der bunten Glühbirnen über unseren Köpfen. Er preßte seine Handflächen gegen die Glasscheibe, und seine Lippen schienen einen Satz zu formen, der aber in der Helligkeit des Lichtblitzes verging, so wie er auch selbst in diesem Augenblick verschwand. Die Zelle war wieder leer, und die Menschen um mich herum waren erstaunt und fasziniert, so wie ich es selbst gewesen war, als ich es zum ersten Male gesehen hatte. Doch nun war mein Erstaunen einer Furcht gewichen, und als Citerszpiler begann, langsam um das Objekt seiner Zauberkunst herumzugehen, da wollte ich nur noch, daß er Rabbit zurückbrachte, damit ich nach vorne gehen und ihn in meine Arme schließen konnte. Aber was tatsächlich geschah, war dies: als Citerszpiler seine Runde beendet hatte, streckte er seine Hand in Richtung der Zelle aus, doch kurz bevor er sie diesmal berührte, hielt er inne. Er schien zu erstarren, einen schrecklichen, kurzen Moment lang, und dann flog seine Hand auf seine Brust, mit der anderen schleuderte er den Gehstock fort und preßte sie darüber. Es sah aus, wie bei einer dieser Wunderheilungen, nach denen der Lahme wieder gehen kann. Aber Citerszpiler kam keine Heilung zugute. Er sackte auf die Knie wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Etwas Speichel lief aus seinen Mundwinkeln, und dann fiel er nach vorne, wo sein Kopf unmittelbar vor den Füßen der Zuschauer in der ersten Reihe auf den Boden schlug. Herzinfarkt, hieß es später. Der Mann war tot. Und Rabbit ... tja ...«

      Beth hatte längst die Hand des alten Mannes losgelassen und drückte nun die eigene vor ihren Mund. Als die Tür des Zimmers geöffnet wurde, zuckte sie ein wenig zusammen, aber es war nur Zucharsky, der zu seinem Bett zurückschlurfte. Mit ihm erfüllte ein beklemmender Geruch, eine Mischung aus Desinfektionsmitteln und Zigarettenqualm, den Raum. Er musterte die drei anwesenden Personen mit einem ärgerlichen Blick, legte sich dann in sein Bett, zog das Laken bis an die Kinnspitze heran und drehte sich demonstrativ auf die Seite.

      Gerome trat an das Fußende von Wilson's Bett, seine Miene war ausdruckslos wie sie es immer war. »Wo ist Ihr Bruder gewesen, Sir?« fragte er.

      »Ich weiß es nicht«, antwortete Wilson. »Niemand weiß es. Er kam nicht zurück.« Seine Augen waren etwas feucht geworden und funkelten wie kleine Sterne. »Die Polizei hat alles abgesucht. Sie haben sogar seine gesamte Hütte zerlegt, Brett für Brett, und den Boden unterhalb der Bühne haben sie einen Meter tief umgegraben. Nichts. Der andere Zauberer wurde um Unterstützung gebeten, dieser Italiener. Auch den Polizisten war klar, daß das Wissen um die Funktionsweise dieses Zaubertricks der Schlüssel zum Verbleib meines Bruders war, und der Italiener wußte 'ne ganze Menge über Kunststücke, bei denen jemand verschwand, aber kein einziges war mit diesem hier vergleichbar. Er war es aber, der herausfand, wie man diese gläserne Zelle öffnete. Offenbar gab es da eine bestimmte Stelle, die man nur berühren mußte, damit die Tür aufging. Sie tasteten das Ding 'nen halben Tag lang ab, in der Hoffnung, daß es auch eine Stelle gäbe, die den Mechanismus auslöste, um Rabbit zurückzubringen, aber leider ohne Erfolg. Schließlich kamen auch noch zwei Männer dazu, die mehr wie Oberkellner aussahen und weniger wie Polizisten. Sie hörten sich die Geschichte an, stellten ein paar Fragen, ließen dann die Zelle auf einen großen Lastwagen laden und schafften sie fort. Aber Rabbit fandet sie auch nicht.

     

      Meine Eltern sind daran zerbrochen. Mein Vater ist jeden Tag zur Wache gegangen, und wenn er zurückkam, setzte er sich zu meiner Mutter an unseren kleinen Küchentisch und hielt ihre Hände. Meine Mutter weinte, und manchmal weinte mein Vater auch. Das war alles sehr schlimm. Die Vorstellung, daß Rabbit tot war, war schon schrecklich genug. Aber wissen Sie, was uns damals wirklich mit Grauen erfüllt hat? Die Möglichkeit, daß Rabbit noch leben könnte, irgendwo, in einem engen, dunklen Verschlag, in den ihn der Trick des Zauberers befördert hatte. In dem es heiß und stickig war, in dem es nach Feuchtigkeit und nach Exkrementen roch und an dessen Außenseite man die Ratten scharren hörte. Irgendwo in einer Halbwelt zwischen Leben und Tod, wie ein Scheintoter, der in seinem Sarg erwacht und die furchtbare Gewißheit hat, daß er die Sonne, die nur zwei Meter über ihm die Erde erwärmt, nie mehr sehen wird, ganz gleich, ob er nun trampelt oder schreit oder sich die Fingernägel abbricht beim Versuch, aus seinem hölzernen Kerker zu entkommen. Die Polizei wertete das Verschwinden meines Bruders als Entführung, offiziell galt er aber als vermißt. Meine Mutter ist nie darüber hinweggekommen. Wenn wir aßen, deckte sie für Rabbit mit, und an Weihnachten blieb stets ein kleines, buntes Paket unter dem Baum liegen, das niemand öffnete. Sie verhielt sich so wie die Frauen nach den Kriegen, die auf ihre vermißten Ehemänner, Söhne und Väter warteten. Zwei ganze Jahre lang. Dann, eines Morgens, erklärte sie, sich damit abgefunden zu haben, daß ihr jüngster Sohn tot sei. Und ein halbes Jahr darauf starb sie selbst.

      Als ich erwachsen war, brach der Krieg aus, und nach Kriegsende begann ich damit, alles in mir aufzusaugen, was ich nur über Zauberei in Erfahrung bringen konnte. Ich las jedes Buch, das ich darüber in die Finger bekam, ich besuchte Varietés, Zirkusvorstellungen und reine Zaubershows, bis mir der Kopf rauchte, und ich redete mit den Illusionisten selbst. Manche waren schroff und abweisend, andere versuchten mir zu helfen, so gut sie konnten, nachdem sie meine Geschichte gehört hatten. Einen seiner Tricks verraten hat mir dabei keiner von ihnen. Diese Leute haben so 'ne Art Ehrenkodex untereinander, der sie verpflichtet, ihre Geheimnisse, wenn überhaupt, nur an Angehörige ihrer Gilde weiterzugeben. Alles, was ich heute über Zauberei weiß«, schloß Wilson, »habe ich mir selbst erarbeitet. Trick für Trick, Illusion für Illusion, Handgriff für Handgriff – genau wie damals. Und jetzt weiß ich 'ne verdammte Menge darüber. Aber genutzt hat mir das trotzdem nichts. Denn für diesen einen, alles entscheidenden Trick gibt es scheinbar keine Erklärung, und ich, ich würde mein Wissen über all die anderen Kunststücke dafür hergeben.«

      Beth sah zu Gerome hinüber, und der Indianer holte tief Luft, so daß sich seine Nase dabei etwas verbreiterte. Wilson hat ein wenig zu zittern begonnen. Die Krankenschwester stand von seinem Bett auf und holte eine kleine Tablettendose aus ihrer Kitteltasche. Sie schraubte den Deckel auf und holte zwei kleine, rosa schimmernde Tabletten heraus, die sie dem alten Mann reichte. Schließlich füllte sie auch sein Wasserglas erneut auf, und Wilson nahm es entgegen, um die beiden Pillen hinunterzuspülen. Schließlich brachte Beth das Kopfende seines Bettes in eine waagerechte Position, deckte ihn sorgfältig zu und strich noch einmal liebevoll mit der Hand über seine Stirn. »Sie werden gleich schlafen können«, sagte sie.

      Gerome nahm seinen Schrubber wieder an sich, öffnete die Zimmertür und trat auf den Flur. Beth folgte ihm in kurzem Abstand, und bevor sie das Licht löschte und die Tür schloß, warf sie noch einen sorgenvollen Blick auf den alten Mann zurück.

      Als sie gegangen waren, war es in dem Zimmer dunkel und ruhig, abgesehen von dem schwachen Licht des Mondes, der durch das kleine Fenster schien und den gleichmäßigen Atemgeräuschen der beiden Männer.

      »Wilson?« sagte Zucharsky plötzlich in die Stille hinein.

      »Was?« brummte der andere mürrisch zurück.

      »Wie war noch mal der Name Ihres Bruders?«

      »Rabbit«, sagte Wilson nicht sonderlich freundlicher.

      »Nein, ich meine seinen richtigen Namen«

      »Rudyard«

      »Ist nicht so geläufig, der Name, oder?«

      »Verglichen mit John oder Thomas ... was soll das, Zucharsky? Lassen Sie mich schlafen!«

      Zucharsky schwieg wieder. Wilson hatte seine Augen noch geöffnet und betrachtete schwermütig das silbergraue Rechteck, welches das Mondlicht an die Zimmerdecke zeichnete. Seine Gedanken zogen wirre Kreise, und er spürte, wie sich seine schweren Lider vor die Augäpfel schoben. Doch in diesem Moment knipste sein Bettnachbar die kleine Lampe an, die sich über dessen Kopfende befand. Behende kletterte Zucharsky von seinem Lager, öffnete die kleine Schublade seines Nachtschränkchens und holte eine Brieftasche hervor. Dann setzte er sich hinüber zu Wilson, ziemlich genau auf die Stelle des Bettrandes, auf der zuvor die Krankenschwester gesessen hatte.

      »Sehen Sie hier, Wilson«, sagte er, während er auch dessen Lampe einschaltete.

      »Oh bitte, Zucharsky«, stöhnte Wilson und kniff seine lichtbeschienenen Augen nun so krampfhaft zusammen, daß sich seine Mundwinkel angespannt hoben.

      »Los, kommen Sie schon«, drängte sein Zimmergenosse, und als Wilson sich ihm zugewandt und die Augen einen Spalt geöffnet hatte, sah er direkt auf Zucharsky’s alte, speckige Brieftasche, von der ein angenehmer Geruch nach Leder ausging.

      Zucharsky hatte sie bereits aufgeklappt. Auf der rechten Seite des Etuis waren einige transparente Kunststofftaschen angebracht, die zur Aufnahme von Kreditkarten dienten; er jedoch trug zurechtgeschnittene Familienfotos darin mit sich herum.

      »Das hier«, sagte Zucharsky nachdem er die kleine Tasche mit dem ersten Bild umgeschlagen hatte, »ist meine Enkeltochter Ruth. Und hier«, wieder blätterte er das Foto um, »ist ihr Mann. Er heißt Thomas. Thomas Diefenbakker. Er hat einen von den geläufigen Namen, nicht wahr?«

      Wilson seufzte. »Hören Sie, Zucharsky«, sagte er, »es tut mir leid, wenn ich Sie vorhin am Schlafen gehindert habe. Daß ich mich dafür zu einer Entschuldigung durchringe, müßte Ihnen doch nun des ausgleichenden Triumphes genug sein.«

      Doch der Angesprochene fuhr unbeirrt fort und schlug die nächste Fotografie auf. »Auf diesem Bild sind sie zusammen mit ihrem Sohn, meinem Urenkel«, erklärte er und fügte nach kurzem Zögern hinzu: »Ruth kann leider ... ah ... sie kann leider keine eigenen Kinder bekommen, deshalb haben sie den Jungen adoptiert. Das ist etwa so zwei, drei Jahre her.«

      Wieder klappte Zucharsky eine der kleinen Taschen um. Auf dem nächsten Bild war sein Urenkel alleine abgebildet, und durch seine müden, halb geschlossenen Augen sah Wilson in das blasse Gesicht eines etwa zehnjährigen Jungen mit blaßblondem Haar. Und auf seiner Stirn, unmittelbar über dem linken Auge, hatte er ein Feuermal, das so aussah wie ein rennendes Kaninchen.

      »Sie nennen ihn Rudy«, sagte Zucharsky, dessen Gesichtsausdruck sich zu einer gequälten, ungläubig zweifelnd dreinschauenden Miene verzogen hatte. »Aber sein voller Name lautet Rudyard Wilson Diefenbakker. Ist schon 'n komischer Zufall. Vor allem mit dem zweiten Vornamen, was?«

      Er hielt Wilson seine Brieftasche noch einen Moment hin und wollte sie dann wegziehen. Aber Wilson nahm sie ihm ab. Er streichelte mit seinem Daumen über das rauhe Plastik, hinter dem sich die Fotografie befand. Seine Blicke gruben sich in die Konturen des Kindergesichtes, das ihm so vertraut und nun so fremd war. Und dessen Augen mehr gesehen hatten, als die seinen.

      Einen anderen Ort.

      Eine andere Zeit.

      Und vielleicht eine andere Welt.