Das Licht des Anglerfisches

Er sah aus wie ich. Er hatte meine Größe und meine Statur. Vom ersten Moment an habe ich gewußt, daß er es sein wird. Nur er. Ich habe ihn beobachtet. Lange. Fast ein ganzes Jahr. So hatte ich Zeit – viel Zeit –, um zu studieren, was mich noch äußerlich von ihm unterschied. Die ordentlich manikürten Finger oder das Haar, das er kürzer trug als ich. Seines war dazu schwarz wie ein Stück Kohle. Und er trug es natürlich zu einer adretten Frisur gefönt. Seine Gesichtshaut war leicht gebräunt, und die Zähne – nun, die Zähne waren so makellos, wie man es von einem Zahnarzt erwarten konnte und so weiß, wie es der Kittel war, den er in seiner Praxis trug.

Ich war da, wenn er morgens seine bürgerliche Eigentumswohnung verließ, und ich war da, wenn er abends dorthin zurückkehrte. Ein ganzes Jahr lang war ich bei ihm. Einmal stand ich sogar direkt neben ihm, als er auf dem Sonntagsmarkt Äpfel kaufte und sog den Duft seines Rasierwassers in mir auf. Ich kaufte das gleiche Gemüse, für das er sich entschied. Auch den gleichen griechischen Rotwein. Und am Abend kochte ich mir das, was auch er essen würde und wurde vom Wein ebenso besoffen wie er. Der einzige Unterschied zwischen uns war nur noch, daß er in seiner modernen Einbauküche saß und ich in meinem armseligen Einzimmer-Appartement. Aber das lag nur daran, daß sie mir nichts anderes zugebilligt hatten, so kurz nach meiner Entlassung.

Ich will mich nicht beklagen, ganz und gar nicht, wenn Sie das meinen. Ich hatte lange Jahre noch nicht einmal das. Und damit meine ich nicht einen eigenen Tisch oder ein eigenes Bett. Ich meine Dinge, die für Sie und für die Gesellschaft ganz normal und alltäglich sind: die Freiheit, vor die Tür zu gehen. Oder aufs Klo, ohne daß zwei bullige Pfleger einem dabei zusehen. Ja, an manchen Tagen sogar das Recht, sich am Arsch zu kratzen. Sie glauben das nicht? Sie wissen nicht, wie es ist, wenn eine Zwangsjacke ihre Arme so fest an den Körper drückt, daß Sie glauben, sie wären dort für alle Zeit festgewachsen, oder? Natürlich nicht. Woher sollten Sie auch? Nun, ich weiß es. Oh ja, wahrhaftig. Ich hatte mehr als einmal die Gelegenheit, entsprechende Erfahrungen zu sammeln. Sie wollen wissen, wie es dazu kam? Weshalb sie mich verwahrten, wie es so schön verniedlichend heißt? Es tut nichts zur Sache, aber weshalb sollte ich es Ihnen nicht erzählen, jetzt, da wir langsam anfangen, uns etwas näher kennen zu lernen?

Es war ihre Schuld. Ganz allein ihre. Sie war eine kleine Schlampe, mit der ich auf der Schule war. Ihr Name war ... ich weiß es schon gar nicht mehr, es ist auch völlig belanglos. Entscheidend ist allein, daß sie mich manipuliert hat. Sie hat mich verändert. Und so ist es auch nur recht und billig, daß sie die Früchte ihrer teuflischen Saat ernten durfte. Sie allein. Was ich mir bei der ganzen Angelegenheit vorzuwerfen habe, ist nur mein mangelndes Mißtrauen. Es hat mich damals einfach im Stich gelassen. Aber woher sollte ich es auch gewußt haben? Sie war eine heranwachsende Frau, die sich eines Tages ihrer unheimlichen Macht bewußt wurde und anfing, damit arglos zu experimentieren. Wie ein Kind, das beim Spielen eine 9mm-Halbautomatik in Papas Schreibtischschublade entdeckt, aufgeregt damit herumhantiert und am Ende zufällig den Nachbarsjungen erschießt.

Wo wir gerade von Kindern sprechen – als ich acht oder neun Jahre alt war, bekam ich ein Buch geschenkt, das Wunder der Tiefsee hieß. Es war ein bunter Bildband und ich habe mit einer Mischung aus Faszination und Schrecken die Fotos und Zeichnungen der Kreaturen in mir aufgesogen, die dort unten in der ewigen Finsternis leben, so daß ich manchmal nachts vor lauter Grauen nicht schlafen konnte.

Im Ozean leben nicht nur nette Delphine und farbenprächtige Korallenfische, müssen Sie wissen. Selbst ein Hai sieht wie ein niedlicher Goldhamster aus neben diesen Geschöpfen mit ihren langen, dünnen Zähnen, die ihnen aus dem Kiefer ragen wie Stricknadeln und ihren großen, bösen Augen, aus denen nichts anderes als der reine, unverfälschte Irrsinn spricht. Ja, ich glaubte damals – ich glaube es auch heute noch –, daß diese Kreaturen allesamt wahnsinnig sind. Es kann gar nicht anders sein in dieser unendlichen, tintenschwarzen Nacht und in der Gesellschaft von Tieren, die aussehen, als ob sie einem Alptraum von Hieronymus Bosch entsprungen sind.

Nun, weshalb ich Ihnen das erzähle, es gibt da einen Fisch, der es mir ganz besonders angetan hatte. Es ist der Anglerfisch. Haben Sie schon einmal etwas über diese Spezies gehört? Der Anglerfisch besitzt auf seinem Kopf ein Organ, das wie ein langer, gebogener Tentakel aussieht. Und an der Spitze dieses Tentakels sitzt so etwas wie eine kleine Glühbirne. Natürlich ist es keine Birne, aber er kann damit ein schwaches Licht erzeugen.

Licht, verstehen Sie?

Stellen Sie sich vor, Sie lebten in einer Welt voller Dunkelheit und plötzlich, eines Tages, ist dort ein Licht, nur ein paar Meter von Ihnen entfernt. Was würden Sie tun? Was ich tun würde, ich würde meine Flossen, meine zweihundert Beine, meine genoppten Extremitäten, oder was Gott (oder wer auch immer dafür verantwortlich sein mag, daß ich verurteilt wurde, in Kälte, Finsternis und ewigem Schrecken zu leben) mir zu diesem Zweck gegeben hat, in Bewegung setzen und das kleine, schwache Licht ansteuern. Keine Frage.

Tatsächlich ist es genau das, was die meisten der Tiefseebewohner auch tun. Sie schwimmen (treiben, kriechen) darauf zu. Sie sind fasziniert davon, kommen voller Ehrfurcht näher und sind so angetan von diesem Wunder, daß sie ihren Blick nicht davon lassen können. Wie ein Bauer, der auf seinem Kartoffelacker einen funkelnden Diamanten findet. Doch wissen Sie, was passiert? Kurz – ganz kurz – bevor sie das wunderschöne Licht erreichen, verschwindet es, und an seine Stelle tritt ein riesiges Maul, in dem es mehr dieser spitzen, langen Nadelzähne gibt als Haare auf dem Arsch eines alten Esels. Und dann ist da nichts mehr, außer der plötzlich zurückgekehrten Dunkelheit und dem Gefühl, das entsteht, wenn der Körper perforiert und in kleine, blutige Fetzen gerissen wird.

Ich habe mich als Kind oft gefragt, ob der Anglerfisch irgendwelche Geräusche dabei macht. Ob er schmatzt oder knurrt. In dem Buch stand darüber nichts. Aber heute glaube ich, daß er dabei lacht – oder was in dem Hades, der seinen Lebensraum darstellt, das Äquivalent dazu ist. Ein irres, gefährliches Lachen über das Schicksal seines Opfers und über den alten Trick, der immer wieder aufs neue funktioniert.

Und diesen Trick beherrschte das kleine Flittchen auch. Zwar hatte sie keinen leuchtenbesetzten Tentakel auf der Stirn, aber sie hatte einen Charme, den sie benutzte wie ein Schmetterling Pheromone. Im Unterricht blinzelte sie mit ihren langen Wimpern zu mir herüber oder fuhr sich mit der Zungenspitze über die sinnlichen Lippen. Manchmal sah sie mich auch einfach nur an – einen Moment länger als gewöhnlich – und dann lächelte sie. Ich müßte mich schämen, es Ihnen zu sagen, aber ich schäme mich nicht, denn mir war damals einfach unbewußt, daß ich nur das Licht des Anglerfisches sah. Ich liebte sie. Wenn ich nur an sie dachte, schlug mein Herz schneller – und ich dachte oft an sie. Pausenlos. Ich stellte mir vor, wie wir zusammen ins Kino gehen und ich dort meinen Arm um sie legen würde, wie ich sie berührte und küßte. Und plötzlich war das nahende Wochenende eine Strafe und der nächste Schultag wie eine paradiesische Versprechung. Dann konnte ich sie wieder ansehen. Diese Augen. Dieses Haar.

Vierzehn Tage lang war ich fast trunken vor lauter Glück. Dann beschloß ich, sie anzusprechen und sie einzuladen. In eine Eisdiele oder in das Kino in der Innenstadt. Nach der Schule ging sie immer durch eine nahe Anlage von Kleingärten nach Hause. Ich folgte ihr ein paar Meter mit meinem Fahrrad, dann nahm ich meinen Mut zusammen, überholte sie und bremste kurz vor ihr ab. Ihr Verhalten und ihre Mimik hatten sich, verglichen mit dem Schauspiel, das sie mir seit zwei Wochen in der Klasse bot, urplötzlich völlig verändert. Sie sah mich skeptisch an, mit ärgerlich zusammengezogenen Augenbrauen und gerümpfter Nase, so wie sie auch einen Hund ansehen würde, der vor ihr auf den Weg scheißt. Ich fragte sie geradeheraus, ob sie keine Lust hätte, mit mir am Nachmittag ins Kino zu gehen. Ihre Augen wurden mit einem Male so groß und rund und bösartig, wie die eines der Tiefseefische, dann wich sie einen Schritt vor mir zurück wie vor einem stinkenden Kadaver und erklärte entrüstet, daß sie seit langem einen Freund hätte. Außerdem, fügte sie harsch und beleidigend an, sollte ich mich doch bitteschön erst einmal im Spiegel ansehen. Ich verstand das alles nicht. Trotz der offensichtlichen Ablehnung und Demütigung wies ich sie auf all die Zeichen hin, die sie mir gegeben und die ich als Annäherungsversuch gedeutet hatte. Und dann machte ich den letzten Fehler. Ich sagte ihr, daß ich sie liebte. Ich berührte das Licht des Anglerfisches.

Das Licht verschwand. Und an seine Stelle trat das große Maul mit den gefährlichen Zähnen. Sie warf den Kopf in den Nacken und dann lachte sie. Laut. Schrill. Hysterisch. Es war mehr ein animalisches Gebrüll als ein wirkliches Lachen. So fremdartig, so böse, daß es klang, wie aus einem dieser finsteren Abgründe, den sie bewohnte und den sie nur verlassen hatte, um sich ein Opfer zu erwählen.

Ich stand einen Moment da, und in mir rangen die verschiedensten Gefühle um die Oberhand. Fassungslosigkeit. Scham. Verzweiflung. Wut. Schließlich ließ ich die alte Aktenmappe, die mir als Schultasche diente, in den Staub fallen und preßte meine Hände gegen die Ohren. Ihr anhaltendes Gelächter tat weh. Es dröhnte durch meinen Schädel, als sei ich ein Spatz, der in einer Kirchenglocke saß. Und dann, endlich, nachdem sie nicht aufhören wollte, sich an mir und meiner Verzweiflung zu ergötzen, warf ich mich auf sie. Für einen kleinen Augenblick der Überraschung war sie still – wohltuende Stille –, dann setzte ihre durchdringende Stimme wieder ein. Aber diesmal war es kein Gelächter. Es waren Schreie. Zunächst dunkle, drohende Schreie der Entrüstung. Dann, nur kurz darauf, spitze Schreie der Angst. Ich begann, auf sie einzuschlagen. Anfangs nur mit einer Faust, während ich mit dem anderen Arm ihre herumirrenden Hände abzuhalten versuchte, mit denen sich mich abwehren, mich schlagen, mich kratzen wollte (sie schlug und sie kratzte mich). Dann erlahmte ihre Gegenwehr und ich schlug mit beiden Fäusten auf sie ein. Ihr Nasenbein brach. Es machte ein Geräusch wie ein dünner Zweig, auf den man im Wald tritt. Dunkles Blut trat aus ihren Nasenlöchern. Ihre Augen waren so geschwollen und so voller Blutergüsse, daß sie aussahen wie zwei Pflaumen in ihrem unter meinen Schlägen deformierten Gesicht.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so auf sie eingeprügelt habe. Ich war wie rasend, mein Brustkorb schien unter der Anstrengung zu zerspringen. Dann ließ ich meine Fäuste hängen wie zwei nutzlose Gewichte – und plötzlich kam sie noch einmal zurück. Sie riß ihren Mund auf, so weit sie nur konnte – ein bedrohlicher Schlund, umrahmt von aufgeplatzten Lippen, den makellose Zähne geziert hatten, bis ich ihr wenigsten drei davon bis in ihren Rachen geschlagen hatte. Sie grunzte (knurrte? lachte?) tief und kehlig. Ein widerliches, schaumiges Gemisch aus Blut und Speichel lief ihr über die Wangen – und dann biß sie zu! Sie verbiß sich in meine linke Hand wie ein tollwütiger Hund. Sehen Sie, Sie können die Narbe noch sehen, hier an der Handkante, direkt unter dem Knöchel. Es tat höllisch weh. Ich hockte über ihr und brüllte meinen Schmerz hinaus, während sie mit ihren Zähnen, den ganzen und den abgebrochenen, immer tiefer in mein Fleisch drang und auf der Sehne meines kleinen Fingers herummahlte wie ein Mühlrad auf dem Weizen. Ich begann, wieder auf sie einzuschlagen, natürlich nur noch mit der freien Hand, aber irgendwie wurde ihr Biß dadurch nur fester und energischer. Und dann, durch irgendeinen Zufall, landete meine Hand plötzlich auf dem Stein, der neben ihrem Kopf lag.

Sie haben später gesagt, daß sie keine Möglichkeit gefunden hätten, sie zu identifizieren, wenn da nicht die Schulsachen gewesen wären, auf denen ihr Name stand. Und die Kleidung, in der sie Lehrer und Mitschüler den ganzen Tag über gesehen hatten. Sie verließen sich am Ende auf die Eltern, die sie natürlich zur Identifizierung baten und die vielleicht an einem Leberfleck auf der Hüfte, einer Blinddarmnarbe oder an was auch immer festmachen konnten, daß die Leiche, die von Hals an aufwärts aussah wie ein überfahrener Igel, ihre Tochter war.

 

Zu dem Zeitpunkt hatten sie mich schon längst einkassiert. Ich lebte bei meinem Onkel in seiner miesen, heruntergekommenen Zweizimmerwohnung. Onkel Georg war nicht mehr als ein versoffener, stinkender Penner, der den ganzen Tag halbnackt auf dem Sofa lag, laut schnarchte und sich ab und zu in die Hosen pißte, wenn er nicht damit beschäftigt war, billigen Korn in sich abzufüllen. Es war ihm scheißegal, daß (ob!) ich auch da war, allerhöchstens war es bequem für ihn, jemanden zu haben, der für ihn zu Aldi gehen und ihn mit neuem Brennstoff versorgen konnte. Ansonsten hätte er auch gerne auf mich verzichtet. Und ich auf ihn. Onkel Georg war mein einziger lebender Verwandter, seit meine Eltern bei einem Autounfall umgekommen waren, als ich drei war. Ich kam zu meinem Onkel und seiner Frau, Tante Karla. Damals waren sie noch eine richtige Familie, aber als ich elf oder zwölf war, starb Tante Karla und von dem Tag an war mit meinem Onkel nichts mehr los. Ich mußte sehr früh anfangen, auf meinen eigenen Füßen zu stehen, denn was ich von Onkel Georg allenfalls noch erwarten konnte, waren ein paar um die Ohren, wenn ihn wieder sein Frust packte. Sobald ich 16 wäre, sagte ich mir immer, würde ich ihn, sein besudeltes Sofa und das Dreckloch, das er seine Wohnung nannte, so weit hinter mir zurücklassen wie ich nur konnte, und das nächste Mal, daß ich in seiner Nähe sein würde, sollte der Tag sein, da ich auf seinem Grab stünde und seinen Stein anpißte.

Tatsächlich war ich erst 15, als sie mich abholten. Sie schlugen die Tür mit einer Ramme ein und quollen in die Wohnung wie die Scheiße aus einer verstopften Toilette. Es waren eine ganze Menge Bullen mit Helmen, die heruntergeklappte Visiere aus Plexiglas hatten, und sie trugen kugelsichere Westen und automatische Schnellfeuergewehre. Ich stand am Waschbecken, wickelte mir eine alte Mullbinde um die Hand und starrte sie ausdruckslos und gelangweilt an. Die Bißwunde pochte, das Blut lief meinen Unterarm hinab und tropfte auf die schmutzigen Fliesen wie Öl aus einem kaputten Kanister. Sie zwangen mich auf den Boden, und als sie mir meine verletzte Hand brutal auf den Rücken drehten, um sie dort an die andere zu ketten, da war es wieder, als ob ich den Kiefer des kleinen Flittchens spüren müßte, und ich brüllte und strampelte, während mir Schaum auf den Lippen stand wie die Gischt auf den Wellenkämmen eines sturmgepeitschten Ozeans. Onkel Georg lag auf dem Sofa und pennte. Er trug graue, zerschlissene Socken, eine fleckige Unterhose und ein ärmelloses Unterhemd. Seine Haare waren schwarz und strähnig, sein unrasiertes Gesicht zerfurcht wie ein Kartoffelacker. Er war das letzte, was ich von der Welt hier draußen sah, bevor sie mir den Elektroschocker in den Nacken drückten. Und so blieb er mir lange Zeit als Synonym für das einzig Erstrebenswerte: das freie Leben. Ausgerechnet er. Das ist wahre Ironie, nicht wahr?

Ich bekam eine Gerichtsverhandlung, die nur kurz war und wenig Aufsehen erregte. Vermutlich lag das daran, daß die Öffentlichkeit zu meinem Prozeß nicht zugelassen worden war – aus Rücksichtnahme auf mein jugendliches Alter und meine Persönlichkeit, die man durch ein etwaiges Spießrutenlaufen der Boulevardpresse nicht schädigen wollte. Zu den wenigen Menschen, die im Zuschauerbereich des kleinen Gerichtssaales saßen, gehörten die Eltern der Schlampe, die allein ihr Schicksal zu verantworten hatte. Ihr Vater war ein dicker, vierschrötiger Kerl, der die kurzen Wurstfinger seiner plumpen Hände stets leicht gekrümmt hielt, als umfasse er ein unsichtbares Glas. Ich denke, er wünschte sich meinen Hals hinein, aber obwohl ich nur fünf Meter vor ihm saß, war ich dennoch für ihn unerreichbarer als seine verfaulende Tochter davon, jetzt noch Schönheitskönigin zu werden. Neben ihm kauerte seine Frau in einem schwarzen Kleid und mit einem bescheuerten Hut auf dem Kopf, der aussah wie ein Joghurtbecher, an den man ein Moskitonetz geklebt hatte. Sie hing bewegungslos auf ihrem Stuhl und lehnte sich fortwährend an die Schulter ihres Mannes. Eigentlich sah sie aus wie ein schwarzer Teppich, den man aufgerollt und an den Kerl gelehnt hatte, damit er nicht umfiel. Immer, wenn ich zu ihnen hinübersah, mußte ich an den Teppich denken und dann grinste ich, und in diesen Momenten sah ich dann, wie ihr Vater die Luft durch die Nase ausstieß, daß sie so breit wurde wie die eines Boxers und daß an seinem Hals die Sehnen hervortraten wie dicke Hanfschnüre. Ja, ich glaube, er wäre gerne mit mir allein gewesen in diesen Momenten. Aber die Chance bekam er nicht. Ich genoß besonderen Schutz. Alles an dieser bizarren Vorstellung war einzig darauf ausgerichtet, mich vor äußeren Einflüssen und Schäden fernzuhalten. Ich glaube, wenn er nur die kleinsten Anstalten gemacht hätte, sich mir zu nähern, wenn er nur den Teppich, der sich an ihn lehnte, von sich geschoben hätte, um zum Sprung bereit zu sein, hätte ihn der Richter sofort aus dem Saal geworfen. Vielleicht hätte er sich fragen lassen müssen, was zum Teufel ihm in den Sinn gekommen war. Womöglich hätten sie ihn auch bestraft für sein übles Vorhaben. Sie finden das paradox, oder? Und sie haben recht. Ich sehe das auch so. Die Welt ist voller Irrer. Damals, an diesen vier Verhandlungstagen, war der Gerichtssaal voll von ihnen. Der einzige, der klar bei Verstand war, war ich. Und so wußte ich, daß es klug war, einfach still zu sein, während ganze Scharen von Psychologen über meine schwere Kindheit philosophierten und darüber, daß ich selber nicht mehr wüßte, was ich getan hatte – und warum es dazu gekommen war.

All das stimmte nicht. Natürlich erinnerte ich mich deutlich. Ich sah es so deutlich wie ich den bornierten Staatsanwalt sah; den Richter, der in seiner dunklen Robe aussah wie ein Priester oder den rotbäckigen Psychologen, der den ganzen Unsinn verbreitete. Es war wie ein Film, der in meinem Kopf ablief, immer und immer wieder. Ja, ich glaubte sogar, die schroffe Oberfläche des Steines spüren zu können, den ich in ihr heuchlerisches Gesicht geschlagen hatte, bis ihr Schädel aufgeplatzt war wie ein rohes Ei, das auf den Fußboden fällt. Nichts war mir so bewußt wie diese Minuten – denn es waren die Minuten meines Triumphes gewesen –, aber ich sagte nichts, auch dann nicht, als sie mich direkt befragen wollten, und so war ich nur ein stummer Zuhörer in einer an Absurditäten nicht zu überbietenden Vorstellung.

Am Ende sprach der Richter das Urteil. Ich mußte nicht ins Gefängnis, keinen einzigen Tag. Ich war zu jung. Und es gab diesen Hinweis auf meinen verwirrten Geisteszustand, das Lied, das die Psychologen fortwährend gesungen hatten. Also wurde ich zur Verwahrung in die geschlossenen Psychiatrie überstellt. In die Klapsmühle, wenn Sie so wollen. Auf unbestimmte Zeit.

Sie meinen, das wäre das gleiche wie die Verbüßung einer Haftstrafe in einer gewöhnlichen Vollzugsanstalt? Nun, zuerst dachte ich das auch. Ich muß Ihnen sagen, daß ich natürlich keine Ahnung habe, wie es in einem Gefängnis zugeht. Ich war nie in einem. Und so war es für mich zunächst unbedeutend, in welcher Art von Gebäude man mich meiner Freiheit beraubte. Ein Käfig bleibt schließlich ein Käfig, auch wenn man ihm einen anderen Namen gibt.

In den ersten Jahren war es die Hölle, anders kann ich es nicht nennen. Sie sperrten mich in ein Zimmer, das kein Fenster hatte, das nichts hatte außer einem Bett, einem ungeschützt dastehenden Klo ohne Brille und einer Überwachungskamera an der Decke. Sie hatten mich als unkontrollierbar und gefährlich klassifiziert. Daher war ich anfangs regelmäßig auf dem Bett festgeschnallt, so daß ich mich kaum rühren konnte, und ein paarmal am Tag kamen zwei Pfleger herein und spritzten mir Chemikalien in den Leib, die mich schläfrig machten und gleichgültig und auf irgendeine merkwürdige Art zufrieden mit meinem Schicksal. Morgens und abends banden sich mich los, um mich auf die Toilette zu setzen. Und alle paar Tage schnürten sie mich in eine dieser Jacken, um mich aus dem Zimmer zu führen, einen langen, gekachelten Gang entlang, vorbei an anderen Türen, hinter denen sich Zellen befanden wie die meine.

Das waren die Tage, an denen die sogenannte Therapie stattfand. Ich saß in einem Raum, in dem es bunte Bauklötze gab, Stoffpuppen und Gummibälle wie im Spielzimmer eines Kindergartens. Und mir gegenüber saß eine Psychologin, die mit ihrer hohen Gestalt, dem langen Hals und dem kleinen, brillenverzierten Gesicht aussah wie eine Giraffe. Sie sah mir zu, wie ich mich in den unbequemen Fesseln wand, dann sprach sie mit mir, fragte etwas völlig Belangloses, wie ich mich fühlte zum Beispiel, oder ob ich wüßte, welcher Tag heute wäre. Ich antwortete nicht, und nach zehn Minuten brachten mich die Pfleger wieder zurück in mein Zimmer, schälten mich aus der Zwangsjacke und banden mich wieder mit den starken Lederriemen auf das Bett.

Das war die Zeit, während der ich glaubte, es in einem regulären Gefängnis besser angetroffen haben zu können, doch dann endlich begriff ich, woran ich war, was sie erwarteten und erhofften – und wie ich meine Lage beeinflussen konnte. Und ob Sie es glauben oder nicht: wieder war es der Anglerfisch, der die Lösung aufzeigte.

Der Anglerfisch war die Psychologin, die ich die Giraffe nannte. Und ihr Licht war nichts weiter als meine Freiheit, die sie mir hinhielt, um mich damit zu ködern. Doch zum Schluß würde ich nichts weiter zu Gesicht bekommen, als ihre langen, spitzen Zähne.

Darum beschloß ich eines Tages, ihr die Genugtuung, die sie sich angesichts meines vergebenen Strebens erhoffte, nicht mehr zu geben. Ich begann, auf ihre Fragen zu antworten, hörte ihr aufmerksam zu, erzählte von mir, wenn sie es verlangte. Aber bei alledem versuchte ich, ihr niemals die Antworten und Reaktionen zu geben, zu denen sie mir goldene Brücken baute. Wenn sie fragte, welcher Wochentag heute sei, dann riet ich nicht, sondern erwiderte, daß ich es nicht wüßte. Ich wußte es ja tatsächlich nicht, da ich ohne ein Fenster in der Zelle den Tag nicht von der Nacht unterscheiden konnte und durch die Medikamente, die man mir verabreichte, die meiste Zeit in komaähnlichem Halbschlaf dahindämmerte. Tatsächlich wußte ich noch nicht einmal, ob es draußen Sommer oder Winter war. Und so sagte ich ihr das auch. Sie begann, mit mir über das zu reden, was sie meinen Geisteszustand nannte und umschrieb in kindlich naiven Worten das, was man gemeinhin als Schizophrenie bezeichnet – immer damit rechnend, daß ich abstritt, verleugnete oder auf andere Art widersprach (denn die Irren geben nie zu, wirklich verrückt zu sein). Folglich tat ich das nicht, sondern bekräftigte sie sogar noch in ihrer Annahme. Ich ging sogar so weit, ihr ins Gesicht zu sagen, daß ich mich selbst für psychisch instabil hielt und ergötzte mich anschließend an ihrer ungewohnten Sprachlosigkeit. Sie mußte sich vorgekommen sein wie eine Mutter, die ihr Töchterlein mit der Geschichte von Biene und Blüte aufklären will und die dann die Sexualität aus deren Munde so deutlich und wissenschaftlich korrekt geschildert bekommt, daß sie vielleicht selbst noch etwas hinzulernt.

Die Sitzungen, die ausladender geworden waren, nachdem ich begonnen hatte, die neue Taktik anzuwenden, nahmen allmählich an Zahl und Dauer wieder ab. Ich hatte den Eindruck, die Giraffe hatte schlicht den Spaß verloren, mich zu quälen, da sie merkte, daß es ihr nicht mehr gelang. So verschwanden allmählich die Lederriemen von meinem Bett; eines Tages verzichtete man darauf, mich in die Zwangsjacke zu stecken, wenn man mich zur nächsten Therapiestunde führte und schließlich reduzierten sie sogar die Medikamente, mit denen sie mich ruhigstellten.

Meine Tage wurden dadurch zunehmend freier aber unerwarteterweise auch auf eine beklemmende Weise leerer, denn schließlich durchlebte ich immer längere Zeit bei klarem Geist und ob Sie es verstehen oder nicht, diese Monate (tatsächlich sollten es am Ende Jahre sein) waren für mich bedrückender und schrecklicher als diejenigen zuvor. Trotz all der Fesseln. Dann, eines Morgens, holte mich ein Pfleger außerplanmäßig ab und brachte mich in einen Raum, in dem bereits zwei Professoren und meine Giraffe hinter einem langen Tisch auf mich warteten wie ein Schwurgericht.

Sie wissen, was geschah, oder? Ich durfte wieder nach draußen, in die richtige Welt. Die Giraffe hatte alles darangesetzt, die Niederlage, die sie durch mich erlitten hatte, doch noch in einen Sieg für sich umzuwandeln. Und dieser Sieg sah so aus, daß sie meine Verhaltensänderungen einzig und allein auf ihre glorreiche Therapie zurückführte. Sie brach eine Lanze für meine Freiheit. Und alles, was ich dazu beitragen mußte, waren eine Handvoll lausiger Antworten auf die lächerlichen Fragen des hohen Komitees. Ob ich wüßte, weshalb ich in dieser Einrichtung gewesen bin (»Ich habe ein unschuldiges Mädchen ermordet«), was ich heute empfände, wenn ich an die Tat zurückdächte (»Abscheu vor mir selbst«) und so weiter. Es war eine Farce, genauso wie die, die mich hierherbefördert hatte.

So kam ich zurück in die Welt, die sich zwölf Jahre ohne mich weitergedreht hatte. Onkel Georg war inzwischen auch körperlich so tot, wie ich ihn geistig in Erinnerung hatte. Es war mir egal. Schließlich war ich ihm auch egal gewesen, sonst hätte er mich wenigstens einmal besucht in all der Zeit, finden Sie nicht auch? Der einzige Mensch, den ich jetzt regelmäßig hier draußen sah, war ein Betreuer, den man mir als Auflage an die Hand gab. Er kam mich in der kleinen Zweizimmerwohnung besuchen, die man für mich als Bleibe ausgesucht hatte, brachte mir etwas Geld (eine staatliche Sozialleistung, die er als Treuhänder verwahrte), sah nach, ob ich meine Wäsche, das Geschirr oder den Inhalt des Kühlschrankes in Ordnung hielt und verschwand dann wieder. So, wußte ich, würde es von nun an weitergehen. Den Rest meines Lebens. Es sei denn, ich würde etwas daran ändern.

Und das tat ich.

Wissen Sie, daß es ganz einfach ist, ein anderes Leben zu bekommen? Vereinfacht gesagt funktioniert es auf die gleiche Weise, wie Sie vorgehen würden, wenn Sie ein schmutziges Hemd trügen. Sie könnten es schmutzig lassen, das ist der einfachste Weg, aber auch der, der am wenigsten ändert. Sie könnten es reinigen, was Mühen und Anstrengungen von Ihnen erfordert. Sie könnten sich aber auch ein völlig Neues kaufen oder, sofern Ihnen die Mittel dazu fehlen, könnten Sie das eines anderen Menschen stehlen. Alles, was Sie brauchen, ist nur ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken. Und wenn ich etwas hatte in diesem meinem kümmerlichen Leben, dann war es Zeit. Die Welt ist voll von Menschen und dem, was sie hingebungsvoll ihre Existenz nennen. Es ist wie in einem Supermarkt. Sehen Sie sich in Ruhe um, was Ihnen gefallen oder passen könnte – und dann wählen Sie eines aus.

Ich spielte mit diesen Gedanken, bis ich eines Tages durch Zufall Doktor Walther begegnete und es mir vorkam, als ob ich eine gepflegtere und weniger geschundene Version meines Spiegelbildes sah. Von diesem Tage an wußte ich, was ich tun würde.

Ich fand heraus, wer er war, wo er wohnte, was er beruflich tat. Dann begann ich damit, ihn zu beobachten, um tiefer in ihn einzudringen, um zu erfahren, wie er lebte, was er gern machte und was nicht. Ich fing an, ihn zu kopieren. Stellte meinen Speiseplan um, gewöhnte mir an, morgens eine halbe Stunde zu joggen und abends um zehn ins Bett zu gehen. Viele Dinge, die ich fortan tat, erforderten einen gewissen Kapitaleinsatz. Daher mußte ich meinen Betreuer in die Sache einbeziehen, was aber nicht weiter schwierig war. Er war ein Sozialarbeiter in Reinkultur, vollgestopft mit den weltfremden Idealen und Theorien seines Hörsaales wie ein Altpapiercontainer mit den unnützen Zeitungen vergangener Tage. Er freute sich regelrecht, als ich ihn um Geld bat, um zum Friseur gehen zu können (er begleitete mich) und dozierte stolz über den Nährwert einzelner Lebensmittel, als er mal wieder meine Schränke inspizierte und statt Tiefkühlpizza auf Müsli und ein volles Gemüsefach stieß. Ich fragte ihn, ob er mir zu Jazzplatten verhelfen könnte (die Doktor Walther immer spielte, wenn er zu Hause war, und die ich hörte, wenn ich an Frühlingstagen auf der Parkbank in der Nähe seines Wohnzimmerfensters saß). Er brachte mir einen ganzen Stapel Vinylplatten, die er billig auf dem Flohmarkt erstanden hatte und einen alten Kofferplattenspieler aus seinen eigenen Beständen gleich dazu. Ich hatte ihn voll und ganz auf meiner Seite, selbst dann noch, als er das erste und einzige Mal etwas skeptisch wurde. An dem Tag nämlich, da er die Bücher über Zahnmedizin sah, die ich mir aus der Leihbücherei besorgt hatte. Also erzählte ich ihm, daß mein verunglückter Vater Zahnarzt gewesen sei (tatsächlich hatte er Möbel in einem örtlichen Einrichtungshaus verkauft) und ich zumindest oberflächlich in die Materie eindringen wollte, die den Alltag meines Vaters bestimmt hatte. Und damit war er zufrieden.

So verging ein ganzes Jahr, in dem ich mich immer mehr wie er benahm und vor allem immer mehr wie er fühlte. Inzwischen beherrschte ich sogar seinen Tonfall, dieses leichte Näseln, das immer ein wenig verschnupft klang und die merkwürdige Art, auf die er das Sch aussprach. Ich habe es von dem Band seines Anrufbeantworters gelernt, das ich immer und immer wieder abhörte, während er Zahnstein entfernte, Löcher in Zähne bohrte oder Betäubungsspritzen setzte.

Und dann, eines schönen Tages, nachdem ich ihm wie so oft unauffällig zum Wochenmarkt gefolgt war, sah ich ihn in dieses Reisebüro gehen. Da wußte ich, daß der Zeitpunkt nahte, ein neues Hemd anzuziehen. Ich rief in der Praxis an und gab vor, einen Termin zur Vorsorgeuntersuchung haben zu wollen. Nicht sofort, sondern erst in ein oder zwei Wochen. Vielleicht erinnern sie sich noch an diesen unentschlossenen Patienten – oder habe ich damals gar nicht mit Ihnen gesprochen? –, der zu guter Letzt erfuhr, daß die Praxis nur noch in der nächsten Woche geöffnet war, da anschließend drei Wochen Betriebsferien anstanden. Hoffentlich haben Sie sich gut erholt. Ich für meinen Teil habe regelrecht aufgelebt.

Nun, ich habe Doktor Walther besucht. Es war der Sonntagabend, an dem er seine Koffer packte, um am Morgen darauf zeitig seinen Charterflug nach Kreta zu erwischen. Es war auch so etwas wie meine letzte Chance. Ich hatte das Wochenende vergeblich auf eine Gelegenheit gewartet, ihn irgendwo abpassen zu können. Wenn Sie ein fremdes Hemd anziehen möchten, muß der andere es zunächst einmal ausziehen, nicht wahr? Aber er gab mir diese Gelegenheit nicht. Nachdem er am Freitag nach Hause zurückgekehrt war, verließ er seine Wohnung nicht mehr. Und daher ging ich schließlich zu ihm.

Sie hätten sein Gesicht sehen sollen, als er die Tür öffnete und erstaunt feststellte, daß er selbst davor stand. Sein Mund öffnete sich ein wenig. Vielleicht wollte er etwas sagen oder es war einfach nur ein Zeichen der Verwunderung, wer weiß. Ich hatte keine Zeit und keine Lust, es abzuwarten. Bevor er noch irgendwie reagieren konnte, hatte ich ihn niedergeschlagen. Der Schlag war hart und präzise und traf ihn genau dort, wo ich es mir vorgenommen hatte: hier unten am Kinn, etwas unter dem Mundwinkel. Es war wichtig, ihn so zu treffen. Wissen Sie, wenn Sie einem Mann in die Magengrube schlagen oder frontal ins Gesicht, dann wird er sich krümmen oder umfallen und dabei wohl oder übel Schmerzenslaute von sich geben, wenn er nicht gleich laut zu schreien beginnt. Habe ich Ihnen gesagt, daß Doktor Walther eine Eigentumswohnung hatte? Sie werden verstehen, daß laute Schreie, die durch das Treppenhaus hallen, das letzte waren, das ich so kurz vor dem Ziel gebrauchen konnte. Daher schlug ich ihn auf diese Stelle. Der Unterkiefer ist ein Knochen, der nur durch ein paar Muskeln und Sehen gehalten wird. Er ist mit keinem anderen verwachsen, was bedeutet, daß Sie ihn aus seiner angestammten Position schlagen können, so Ihre Faust hart genug auftrifft. Aber selbst, wenn Ihnen das nicht gelingt, so schlagen Sie Ihrem Gegenüber buchstäblich den Mund zu, und wenn Sie dabei etwas von ihm hören, dann ist es höchstens ein schmerzerfülltes Keuchen oder das Geräusch, das sein Körper beim Aufprall auf dem Boden macht.

Jedenfalls – ich hatte ihn goldrichtig erwischt. Sein Kopf flog zur Seite wie ein Pingpongball als es ihm die Zahnreihen aufeinanderschlug. Irgendwie hatte er die Zunge dazwischenbekommen, und sein Blut zeichnete einen hauchfeinen, roten Strich in die Luft, der dort für einen Augenblick verharrte wie ein unvollständiger Regenbogen. Dann fiel Doktor Walther auf die Seite, wobei er mit dem Kopf an die Wand der Diele schlug. Ich war mit zwei Schritten bei ihm, drückte die Tür hinter mir leise ins Schloß und dann preßte ich meine Daumen auf seinen Adamsapfel, bis ich merkte, daß ich ihn allmählich zerquetschte wie eine faule Aprikose.

Ich glaube, er war bereits tot, als ich ihn um drei Uhr morgens die Treppe hinuntertrug und auf den Rücksitz seiner Limousine legte. Ich hatte ihm meine Kleidung angezogen, er hatte meinen Personalausweis, meinen Schlüsselbund, und er sollte schon bald mein Leben haben. Dann habe ich ihn zu der Bahntrasse gebracht, die aus dem Industriegebiet führt, habe ihn geschultert die Böschung hinaufgetragen wie einen Kohlensack, nur um keine Schleifspuren zu hinterlassen. Und letztlich habe ich ihn auf das Gleis gelegt. Den Kopf und beide Hände. Dann bin ich ein paar Schritte zurückgegangen, habe mich hinter ein paar Sträuchern verkrochen, und dann habe ich gewartet. Bis endlich ein Zug kam.

Es war eine schwere Diesellok – soviel ist sicher –, die eine nicht enden wollende Kette von Tankwaggons hinter sich herzog. Ich würde Ihnen gerne schildern, was genau geschah, wie sein Kopf zerplatzte und seine Hirnmasse unter dem großen Druck der Räder auf dem Gleiskörper kochte, aber ich sah nichts von alledem. Es war noch stockdunkle Nacht, bitte bedenken Sie das. Ich glaube, mich nur zu erinnern, daß sein Körper zu zappeln begann wie eine Forelle, als die Lok ein Stück von ihm abtrug. Es ist schon seltsam, aber manchmal denke ich, daß er schon zuckte, Sekunden bevor die Zugmaschine bei ihm war. Halten Sie es für möglich, daß er vielleicht nicht wirklich tot war, so wie ich es annahm? Daß er aus einer Bewußtlosigkeit erwachte und sah, was auf ihn zukam? Und daß die ruckartige Bewegung seines Leibes, die ich vermutlich gesehen habe, ein ebenso verzweifelter wie vergebener Versuch war, dem Schicksal noch zu entkommen? Wissen Sie, daß mich auch dieses Bild auf eine vertraute Art an das arglose Opfer des Anglerfisches erinnert? An das Licht, das näherkommt und die Finsternis erhellt. Und an den plötzlichen Tod, der an seine Stelle tritt.

Als Lok und Waggons nur noch ein dumpfes Grollen in der Ferne waren, bin ich vorsichtig zu der Stelle hinübergegangen, an der er sich befand. Der Zug hatte ihn ein paar Meter mitgeschleift und dann wie ein benutztes Taschentuch die Böschung hinabgeworfen. Ein großer Brombeerstrauch hatte ihn aufgefangen und hielt ihn mit spitzen Dornen in einer unheimlichen, aufrechten Position. Sein Kopf war nicht mehr da, das konnte ich sofort sehen. Der stachelige Strauch mit seinen dicken, fleischigen Früchten schien ihm direkt aus dem Hals zu wachsen. Der linke Arm war vollständig abgerissen worden, und anstelle der rechten Hand flatterten nur noch Fetzen des Baumwollhemdes, das ich ihm angezogen hatte.

Ich stieg die Böschung wieder hinab und fuhr in seine Wohnung zurück, die jetzt meine war. Dann packte ich die Koffer zu Ende, die noch immer auf dem Bett lagen. Und am nächsten Morgen flog ich nach Kreta. Es kam mir ganz zupaß, daß er eine Reise in den Süden gebucht hatte. Ich hatte noch ein kleines Defizit, was meinen Teint betraf.

 

Während ich also täglich am Swimmingpool oder am Strand lag und allmählich immer brauner wurde, las ich natürlich auch aufmerksam die deutschen Zeitungen, die man im Hotel kaufen konnte. Am dritten Tag fand ich dann den Artikel, der mich betraf. Sie hatten ihn gefunden, zwei Tage nachdem es geschehen war. Ich stellte mir gerne vor, daß er angesichts des sommerlichen Wetters nicht mehr im allerbesten Zustand gewesen war, als Polizisten und Pathologen über den Bahndamm gestakt waren. Daß sie von dicken, grünlich glänzenden Fliegen umschwärmt wurden, deren Maden bereits aus der abgetrennten Speiseröhre krochen. Daß sie die Ratten von den faustgroßen Löchern aufscheuchten, die schon in seine Waden gefressen worden waren. Daß sie dabei fluchten oder nach ihrem Schöpfer riefen. Oder sich über einem der vielen Brombeerbüsche übergaben.

Sie glaubten an einen Unfall oder an Selbstmord. Das Wichtigste aber war, daß sie annahmen, ich sei die Leiche.

Wissen Sie noch, daß ich Ihnen von den Schwierigkeiten erzählt habe, welche die Polizei damals gehabt hatte, um die Identität des toten Flittchens festzustellen, wenn da nicht die Eltern gewesen wären?

Es gibt eine Menge Möglichkeiten, um einen Menschen vom anderen zu unterscheiden. Eine Unzahl von persönlichen Merkmalen, die bei jedem Individuum anders sind. Der Haken ist nur, daß die meisten davon nirgends verzeichnet sind, damit man sie im Ernstfall zum Vergleich heranziehen kann. Am häufigsten beruft man sich daher auf das Zahnbild, denn der absolute Großteil der Leute ist in ihrem Leben schon einmal beim Zahnarzt gewesen, das wissen Sie ja besser als sonst jemand, nicht wahr? Was aber, wenn der unbekannte Tote keine Zähne mehr hat? Oder, wie in diesem Fall, noch nicht einmal mehr einen Schädel? Zumindest was meine Person betrifft, existierten auch noch Fingerabdrücke, die sie mir damals bei meiner Einlieferung abgenommen und gemeinsam mit meinen Personalien verwahrt hatten. Doch die Leiche hatte leider auch keine Hände mehr. Natürlich haben sie heute noch andere, aufwendigere Verfahren, die sie einsetzen können. Einen DNA-Abgleich mit einem Haar aus meiner Bürste zum Beispiel. Aber ich denke, es war ihnen schon zu viel, die blutgetränkte Kleidung des stinkenden Kadavers zu durchsuchen. Dabei fanden sie schließlich meinen Ausweis. Und mein Betreuer hatte in der Zwischenzeit sicherlich auch schon eine Vermißtmeldung aufgegeben. Damit erhielt die Akte ihren Deckel. Nur ein toter Irrer. Ein Verrückter weniger auf der Welt.

Und so kam eins zum anderen. Natürlich wußte ich nicht, wer aus seinem Bekanntenkreis vergeblich auf eine Ansichtskarte warten würde. Ich hatte ihn, wie ich Ihnen ja ausführlich geschildert habe, lange und intensiv beobachtet, und mir waren dabei eigentlich keine sozialen Kontakte aufgefallen. Dennoch konnte es freilich Leute geben, mit denen er vielleicht nur telefonierte oder ihnen schrieb. Alte Freunde aus der Schulzeit oder von der Universität. Nun, das war ein minderes Problem, um das ich mich kümmern würde, wenn ich wieder zu Hause war. Eine viel bedeutendere Frage betraf allerdings die Praxis. Was sollte ich tun? Ich glaubte, mich Doktor Walther in Aussehen und Gebaren bereits so weit angenähert zu haben, daß ich auf die meisten seiner Patienten überzeugend wirken mußte. Meine Kenntnisse in Zahnmedizin waren zwar noch sehr oberflächlich und rein theoretischer Natur, aber ich stellte es mir nicht sonderlich schwierig und bis zu einem gewissen Grad sogar recht amüsant vor, Zähne aufzubohren oder gewaltsam mit einer Zange herauszureißen, so daß ich durchaus Lust verspürte, es einmal zu versuchen. Personen, die sich mir versuchsweise zur Verfügung stellten, standen schließlich jeden Tag zu Dutzenden in dem dicken Terminkalender. Ich bräuchte ihnen nur zu sagen, daß die Behandlung aufgrund des Krankheitsbildes schmerzhaft sein würde. Oder mit langanhaltenden Komplikationen zu rechnen sein müsse. Sie würden es glauben. Und mir vertrauen.

Besorgt war ich nur, was die beiden Angestellten betraf. Ich mußte davon ausgehen, daß ihm, als zurückgezogen lebendem Junggesellen, niemand regelmäßig so nahe kam wie Sie und Ihre Kollegin. Niemand konnte so ein Feingespür für sein Verhalten und seine Ausdrucksweise haben wie Sie. Und schließlich, vergessen Sie das nicht, bin ich ja trotz allem nicht sein eineiiger Zwillingsbruder. Natürlich ist mir bewußt, daß schon mein Gesicht allein einem intensiven Vergleich nicht standhält. Aber wer sollte den durchführen können – außer Ihnen?

Ich glaube nicht, daß ich Ihnen nun noch etwas erzählen könnte, was Sie nicht bereits selber wissen. Nach 14 Tagen bin ich vorzeitig aus dem Urlaub zurückgekehrt. Ich brauchte noch ein paar Tage Zeit, bevor die Praxis wieder öffnete, um ein paar wichtige Dinge zu tun.

So war ich beispielsweise auf dem Friedhof. Erinnern Sie sich? Ich sagte, ich wollte Onkel Georgs Grabstein anpissen. Aber ihn habe ich gar nicht besucht. Statt dessen habe ich vor meinem Grab gestanden, stellen Sie sich das vor. Es ist ein verdammt merkwürdiges Gefühl, das kann ich Ihnen sagen, wenn Sie Ihren eigenen Namen auf dem billigen Holzkreuz lesen, das man an das Kopfende gestellt hat. Aber auf irgendeine Art hatte ich mich bereits von der Person mit diesem Namen distanzieren können. Ich war inzwischen Doktor der Zahnmedizin und hieß Walther. Und der Kerl, der da in zwei Meter Tiefe langsam verweste, war nicht mehr als ein nutzloser Verrückter. Ein Mörder zudem. Ich sah mich über beide Schultern um, und als ich erkannte, daß ich allein war, tat ich es. Ich pißte darauf.

Dann rief ich Sie und Ihre Kollegin an und bat Sie, heute in die Praxis zu kommen. Einen Tag vor dem offiziellen Arbeitsbeginn. Nur kurz, um mir bei ein paar Vorbereitungen zu helfen. Ich kann nicht verheimlichen, daß ich gespannt war, was Sie sagen würden, sobald Sie mich sahen. Bis zuletzt war ich eigentlich trotz meines begründeten Zweifels überzeugt, daß Sie in mir Ihren Chef erkannten, daß Sie mich fragten, wie mein Urlaub gewesen sei oder freudig davon berichteten, wie Sie selbst Ihre freie Zeit verbracht hatten.

Ihre tatsächliche Reaktion war – wenn ich es gelinde ausdrücken will – kränkend. Womöglich schämen Sie sich ein wenig, jetzt, da Sie wissen, wieviel Zeit und Mühe es mich gekostet hat, überhaupt bis zu diesem Punkt zu gelangen. Sie täten gut daran. Aber, wie ich schon sagte, eigentlich hatte ich mich ja bereits darauf eingestellt, daß Sie meine kleine Täuschung durchschauen würden, sonst wären wir beide ja schließlich auch heute noch nicht hier. Mal sehen, wie sich Ihre Kollegin verhält, wenn sie später zu uns stößt.

Wo ich es gerade erwähnt habe: wir haben nur noch eine knappe Stunde, bis es soweit ist, sehen Sie nur. Bitte entschuldigen Sie, daß ich so ins Plaudern gekommen bin. Es war zweifellos sehr unbequem für Sie, die ganze Zeit bewegungslos auf dem Behandlungsstuhl festgebunden zu sein. Aber Sie verstehen bestimmt, daß ich jetzt, so kurz vor dem Ziel, nicht alles wieder über Bord werfen kann, was ich mir aufgebaut habe, oder? Deshalb hoffe ich einfach, daß Sie es mir nicht noch künstlich schwerer machen wollen. Sie wissen ja jetzt von dem Zeitdruck, den wir haben. Machen Sie einfach Ihren Mund auf. Ich denke, daß es am sinnvollsten sein wird, mit den Schneidezähnen zu beginnen, um dann Zahn für Zahn nach hinten weiterzumachen. So sind sie nicht im Weg, wenn ich Ihnen letztlich die Weisheitszähne ziehe. Dafür braucht man sicherlich Kraft und Platz, was meinen Sie? Es wäre schön, wenn Sie der Behandlung nicht entgegenwirken würden, sonst müßte ich das Skalpell nehmen und Ihre zusammengekniffenen Lippen ganz einfach wegschneiden. Das wollen Sie doch nicht, oder etwa doch? Also, bitte, machen Sie den Mund auf!