Wurmfleuth

Hartmut Kron sah auf die Dächer der kleinen Ortschaft, die so unverhofft hinter der nächsten Hügelkuppe aufgetaucht waren, daß er für einen Augenblick eher an eine Sinnestäuschung aufgrund des rapide nachlassenden Tageslichtes glauben mochte als an einen puren Glücksfall. Genau das war es nämlich: ein glückliches Geschenk, auf das er nicht einmal hoffen, geschweige denn zählen durfte. Hartmut warf einen hastigen Blick den holprigen Pfad zurück, auf dem Elke ihm vorsichtigen Schrittes gefolgt war – die Augen auf ihre derben Wanderschuhe gerichtet und ihre Nordic Walking-Stöcke fest umklammernd. Im Laufe der letzten Stunde hatte Hartmut sich sukzessiv gute fünfzig Meter Vorsprung vor seiner Frau erarbeitet; ein Umstand, den er einzig und allein seinem schlechten Gewissen zuschreiben mußte, auch wenn Hartmut seinem Naturell nach weit davon entfernt war, das tatsächlich zu tun. Wenn er ehrlich zu sich selbst war (und das war er. Sein Manko war lediglich ein erheblicher Mangel an Selbstkritik, aber das machte ihn keinesfalls zu einem unehrlichen Menschen. Zumindest nicht in seinen eigenen Augen), mußte er sich eingestehen, daß letzten Endes alles auf ihn allein zurückfiel. Daß er mit Elke hier war. Daß sie ausgerechnet in die Vintschgau fahren mußten. Und natürlich auch, daß sie sich gleich am ersten Tag in einem Areal verlaufen hatten, welches so groß war, daß es auf Hartmuts Tourenkarte im Maßstab Eins zu Zehntausend eine Fläche von der Größe eines Suppentellers einnahm.

      In der letzten Stunde, während der er seiner Frau vorausmarschiert war – immer hoffend, hinter der nächsten Biegung auf einen Wegweiser zu stoßen oder auf einen anderen Wanderer, der zumindest über eine Spur vor Orientierungssinn verfügte. Oder sogar nur auf eines dieser kryptischen Symbole, welche, auf die Stämme der Bäume gemalt, für einen ausgewiesenen Wanderweg standen –, hatte er genügend Zeit gefunden, sich die Widersinnigkeit seines Planes mehr als deutlich vor Augen zu führen. Hartmut Kron war nicht der Mensch, der zum Wandern in die Berge fuhr. Sein Bedarf an Naturnähe war leicht durch ein geöffnetes Seitenfenster vom Sitz seines Autos aus zu decken, und was den Wunsch nach dem Kennenlernen anderer Kulturen, Sitten und Gebräuche betraf, so schieden hier von vornherein alle Dinge aus, die nicht in ein Glas oder auf einen Teller paßten. Grundsätzlich waren weder Natur noch Kultur Begriffe, die Hartmut mit seiner Vorstellung von einem erstrebenswerten Urlaub in Einklang bringen konnte. Dafür – und diese Meinung war tiefer in ihm verwurzelt als eine alte Platane im Erdreich – mußte er Wiesbaden nicht verlassen. Wofür es hingegen notwendig erschien, war die Sonne am Himmel, der Geruch des chlorierten Poolwassers in der Nase und das Plastikband am Handgelenk, das ihn als All-Inclusive-Gast auswies. Es war insofern wenig verwunderlich, daß Hartmut nunmehr erst zum zweiten Male überhaupt in einer Gegend wie dieser war, während er das machte, was man gemeinhin als Urlaub bezeichnete. Das erste Mal, daß er hier war (was heißen sollte, nicht genau hier, aber an einem Ort, dessen Attribute mit denen dieses Fleckchens beliebig austauschbar waren), war auf ihrer Hochzeitsreise gewesen. Die hatte vor zwei Jahren stattgefunden und auch damals war es auf seine Initiative hin geschehen. Er wußte, daß Elke die Berge liebte. Das gab seinerzeit den Ausschlag. Und diesmal war es genauso. Nur, daß ihre Beziehung vor zwei Jahren noch am Anfang stand und jetzt bereits am Ende war. Oder sogar schon ein Stück darüber hinaus.

      Er hörte Elke leise keuchen, als sie bis auf ein paar Schritte an ihn herangekommen war, und aus ihren Augen war das fröhliche Funkeln, das so prägnant für Prinzessin Niebetrübt war, seit dem frühen Nachmittag verschwunden. Es sah nicht so aus, als ob ihr dieser kleine Ausflug besondere Freude bereitete, und Hartmut konnte ihr das beim besten Willen nicht verdenken. Der Mond hatte bereits am Himmel gestanden, als dieser noch mit seinem unverhangenen, pastellfarbenen Babyblau prahlte. Es war wie eine permanente, hohntriefende Drohung gewesen. Ein stummer, aber eindrucksvoller Vorbote des herannahenden Übels. Nicht mehr als ein paar nikotingelbe Fingerkuppen und ein kleiner, dunkler Auswurf im Waschbecken, deren wortlose Symbolhaftigkeit zu einer wispernden Stimme im Labyrinth der eigenen Gehirnwindungen anwachsen konnte, wenn man die Unvorsichtigkeit besaß, ihr die eingeforderte Aufmerksamkeit zu schenken. Hallo mein Freund, würde die Stimme raunen (eine tiefe, eindrucksvolle Stimme, so wie Elmar Gunsch sie hatte, aber diesem Elmar Gunsch würde man deutlich anhören, daß er hinter dem Rücken ein aufgeklapptes Rasiermesser hielt), wie gefällt dir das? Nimm es nicht so schwer, es ist nichts passiert. Kein Grund zur Besorgnis. Noch nicht. Wir haben noch einiges im Programm. Vielleicht solltest du ja langsam loskommen von deinen zwei Schachteln Reval Ohne. Andererseits kann es eine interessante, neue Erfahrung für dich werden; ein echtes Abenteuer sogar. Und, hey, noch kämpft sich genügend Blut durch deine Herzkranzgefäße. Und noch ist der Himmel babyblau. Was für ein strahlendes Blau. Nichts zu sehen von der Nacht. Nichts zu spüren von einem Infarkt. Noch nicht. Noch nicht. Hartmut hatte hochgesehen zu diesem Mond, den er innerlich verleugnete und immer wieder damit gerechnet, daß er verschwinden müsse. Daß er sich auflöste, wie eine einzelne, dunkle Gewitterwolke an einem strahlend hellen Sommertag. Und als er eingesehen hatte, daß der Mond nicht die Absicht hatte, seinen Platz wieder zu räumen, hatte er ihm keine Beachtung mehr geschenkt und sich auf den Weg vor ihm konzentriert, auf dem die großen Kiesel spitze Schatten warfen. Doch dann waren die Schatten immer länger geworden, und als er das nächste Mal zum Himmel emporsah, hatte der Mond eine feindliche, rostbraune Farbe und eine kränkliche Aura angenommen, die ihn einhüllte wie der Pesthauch einen Aussätzigen. Es war knapp gewesen. Verdammt knapp. Menschen (besonders solche aus den Städten) verirrten sich gern in Wäldern oder Gebirgen. Die Bergwacht konnte ein hübsches Liedchen davon singen. Hartmut war überzeugt, daß es nicht lebensbedrohend sein könnte, die Nacht im Freien zu verbringen – ebenso, wie er ziemlich sicher war, daß es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre, nach Einbruch der Dunkelheit weiterzumarschieren. Es war Spätsommer und immerhin war dies nicht der Amazonasdschungel. Die gefährlichsten Tiere, die ihnen begegnen konnten, waren die Mücken, mit denen sie sich schon den ganzen Tag abgeplagt hatten, und spätestens morgen früh wären sie dann auf einen Wegweiser gestoßen. Oder auf eine Straße. Aber sie hätten auf dem Boden schlafen müssen. Irgendwo abseits des Weges am Fuße der Bäume, wo nicht so viel Geröll lag. Sie hätten sich ihre Wanderrucksäcke unter den Kopf geschoben, sich zusammengekauert (Hartmut bezweifelte, daß sie sich aneinander gekauert hätten) und irgendwie die Nacht überstanden. Daß dies seinem Vorhaben, ihre an sich nicht mehr existente Beziehung doch noch zu kitten, nicht besonders förderlich gewesen wäre, daran schien kein Zweifel möglich. Daß sie nunmehr eine Ortschaft erreicht hatten, war daher schon beinahe kein Glücksfall mehr. Es war ein Wunder. Ein unfaßbares Wunder.

      Elke erkannte sofort, daß sich irgend etwas an ihrer Situation geändert haben mußte, ohne daß sie die eingetretene Wendung hätte benennen können. Es genügte bereits, daß sie sah, wie Hartmut nicht nur stehengeblieben war, sondern sich nun auch anschickte, ein paar Meter des Weges zurück auf sie zuzugehen. Das war nämlich das genaue Gegenteil des Verhaltensmusters, das ihr Mann (ihr Noch-Mann, wie sie Hartmut gern in Gegenwart ihrer Freundinnen bezeichnete) in den letzten beiden Stunden zur Schau gestellt hatte: das Einhalten dessen, was man einen Sicherheitsabstand nennen konnte, um allen Arten von Diskussion oder gar unterschwelligen Vorwürfen an seine Person von vornherein keine Chance zu geben. Elke spürte, wie sich ihre Mundwinkel zu einem kaum merklichen, sarkastischen Lächeln verziehen wollten, als sie daran dachte, daß ihr unfehlbarer Begleiter damit begonnen hatte, sich allmählich von ihr zu entfernen, kurz nachdem sie instinktiv geahnt hatte, daß sie im Begriff waren, sich langsam aber bestimmt zu verirren. Es war ein deutliches Zeichen dafür, daß sich auch Hartmut dessen bewußt gewesen war, aber es war natürlich auch ebenso abwegig, zu erwarten, daß Hartmut das eigenes Fehlverhalten freiwillig zugab. So war sie hinter ihm hergestapft, und die Erkenntnis, daß der eingeschlagene Weg garantiert der falsche war und sich an irgendeiner Stelle im Nirgendwo des Waldes oder der Unpassierbarkeit eines Geröllfeldes verlaufen würde, machte ihre Schritte nicht unbedingt einfacher. Es war eine wahre Meisterleistung an Geduld und Selbstbeherrschung gewesen, das absehbare Unglück kommentar- und widerstandslos hinzunehmen – aber da alle Dinge, insbesondere die schlechten, auch stets eine zweite Seite hatten, kam Elke nicht umhin, in der ärgerlichen Situation eine Facette zu erkennen, die ihrer Planung eigentlich nur in die Hände spielte. Sie erinnerte sich deutlich an den nagenden Zweifel, der sie befallen hatte, nachdem sie Hartmuts Einladung widerstrebend angenommen hatte. Ihre Beziehung war eigentlich mehr als entfernt von einem Punkt, an dem die Partner einen gemeinsamen Urlaub planten. Tatsächlich hatte Elke ihre gemeinsame Wiesbadener Wohnung bereits vor über einem halben Jahr verlassen und wohnte seitdem wieder in dem kleinen Ort im Hunsrück, in dem sie aufgewachsen war. Und nach ihrer Sicht der Dinge war der Umstand, daß sie formal noch verheiratet waren, die einzige Sache, die sie überhaupt noch verband. Hartmut war ein selbstgefälliger, bornierter Idiot. Das war er immer gewesen. Selbst an dem unglückseligen Tag, an dem sie mit ihm auf dem Bahnsteig in Wiesbaden zum ersten Mal ins Gespräch gekommen war, weil sie beide zufälligerweise zur gleichen Zeit den gleichen Zug verpaßt hatten, hatte es schon in dicken, leuchtenden Buchstaben auf seiner Stirn gestanden: Ich bin ein Vollidiot. Für Elke war es heute unerklärlich, wie sie selbst mit allen Symptomen – von Blindheit bis zu schierer Naivität – geschlagen gewesen sein konnte, um gerade diesem Mann auf den Leim gegangen zu sein. Hartmut Krons Personalausweis mochte ausweisen, daß sein Besitzer im zweiunddreißigsten Lebensjahr stand; vom reinen Status seiner geistigen Entwicklung her betrachtet war die gleiche Person jedoch in der Pubertät steckengeblieben, Geburtsdatum hin oder her. Daß es unmöglich sein mußte, ein sich auch an eigenen Wünschen und Interessen orientierendes Leben zu führen, wenn man auf dem Planeten Kron mit seinem selbstgefälligen Gott Hartmut weilte, war Elke heute so instinktiv klar, wie sie wußte, daß es keine Genugtuung bot, die Hand auf die heiße Herdplatte zu legen. Aber tatsächlich gespürt hatte sie es wohl erst an dem Morgen, an dem sie zitternd im Badezimmer stand und dabei zusah, wie sich der Kontrollstreifen des Schwangerschaftstests langsam und unheilvoll verfärbte, bis er die unpassendste aller Farben angenommen hatte, die das Spektrum vorsehen konnte. Sie hatte gefühlt, wie die eiskalte, unsichtbare Hand, die in ihrem Nacken gelegen und dort ihr Zittern bewirkt hatte, sich um ihren Hals legte und mit langen, knöchernen Fingern allmählich zudrückte, bis es ihr schwerfiel, zu schlucken. Draußen, vor der Badezimmertür, hatte Hartmut, nachdem eine von ihm selbst als angemessen festgelegte Zeitspanne verstrichen war, mit geradezu prophetischer Genauigkeit den Grund erkannt, weshalb seine Frau so verhalten blieb und noch auf dem Wannenrand hockte. Und dann hatte sie gehört, wie er vor Euphorie über sein Werk aufgejauchzt hatte wie ein Hund, dem man auf den Schwanz tritt und wie er seine Eltern anrief, um ihnen die frohe Kunde zu verkünden: der Planet Kron bekam einen (mindestens einen) neuen Bewohner, und damit hatte sich das Strafmaß seiner lieben Frau, den Verbleib in seinem Reich betreffend, wohl auf lebenslänglich verschärft. Gnadengesuche waren nicht vorgesehen und ehedem aussichtslos.

      Als er Elke drei Monate später im Streit so heftig ins Gesicht schlug, daß sie zu Boden fiel und kurz darauf eine Fehlgeburt hatte, wußte sie zunächst nicht, ob sie über den letzteren Umstand eher bestürzt oder glücklich sein sollte. Doch dann, als sie die große Chance erkannte, die ihr in unverhoffter Weise noch einmal geboten wurde, tat sie das einzig Richtige: sie begnadigte sich kurzerhand selbst.

      Es sprach für Hartmuts störrische Überheblichkeit, daß er trotz allem den Versuch nicht scheute, erneut einen Fuß in die Tür zu bekommen. Womöglich ging er mit seinem schlichten Gemüt davon aus, daß, was einmal geklappt hatte, auch im zweiten Anlauf glücken mußte. Dabei kam dies schon fast einer indirekten Beleidigung gleich, indem er Elke unterschwellig eine fortgesetzte Dummheit attestierte. Und vielleicht war Elke tatsächlich dumm gewesen. Aber wenn, dann war das jetzt vorbei. Den Fleurop-Boten hatte sie zweimal abgewiesen und ein weiteres Mal die Annahme eines Päckchens im Pralinenschachtel-Format verweigert. Der Brief, den Hartmut ihr letzten Endes geschickt hatte (und dem er zwar ein während ihrer damaligen Hochzeitsreise aufgenommenes Foto, nicht jedoch eine Spur von Reue oder gar so etwas wie eine aufrichtige Bitte um Verzeihung für sein Mißverhalten beigefügt hatte), lag schon unter alten Zeitungen und Cornflakesschachteln im Altpapier vergraben, als Elke beschlossen hatte, darauf zu reagieren. Hartmut lud sie ein, mit ihm ein Wochenende in Südtirol zu verbringen und seine Absichten waren Elke sofort mehr als klar. Er dachte ernsthaft daran, einen neuen Anfang zu versuchen und wollte dies geschickterweise in einer Gegend tun, welche die Erinnerung an alte (wie er meinte: bessere) Zeiten neu aufleben lassen könnte. Welchen Grund konnte sie haben, sich darauf einzulassen? Wollte sie annehmen, daß Hartmut ein reiferer Mensch geworden war, der es verdiente, eine zweite Chance zu bekommen? Denn das war es, was er sie glauben machen wollte, und da Elke dies wußte, waren ihre Beweggründe von absolut subtilerer Natur: sie wollte, daß er Morgenluft schnupperte; wollte, daß er ahnte, seine Bemühungen könnten – würden – von Erfolg gekrönt werden; wollte, daß er sich vor dem großen Wandspiegel in der Diele in Positur warf und sich ob seiner Unwiderstehlichkeit selbst bewunderte, dabei vielleicht so etwas sagte wie »Du hast es noch« oder »Kein Wunder bei einem Kerl wie mir.« Wie tief mußte jemand fallen, der sich so weit hinaufgezogen hatte. Und selbst an einer gefühlskalten Kreatur wie Hartmut konnte ein solcher Sturz nicht völlig verheilen, ohne ein paar kräftige Narben zu hinterlassen. Eventuell müßte schon die nächste, einfältige Schnecke, die er früher oder später natürlich an Land ziehen würde, davon nutznießen können. Auf jeden Fall jedoch würde es eine erfrischende Genugtuung für sie, Elke, werden.

      Sie hatte sich also vorgenommen, ein ganzes Wochenende zu schauspielern, um Hartmut die Person zu bieten, die er erwartete: eine Frau, die nicht nur räumlich mit ihm in einer Region stand wie vor zwei Jahren, sondern die auch die gleiche Einstellung ihm gegenüber hatte wie damals. Und vor allem, die keinerlei Erinnerung mehr an die Scheußlichkeiten mitbrachte, die seitdem geschehen waren. Es würde ein Höchstmaß an Kraft erfordern, um dieser Rolle gerecht zu werden, insbesondere, weil Hartmut alle Register ziehen würde, sich selbst von seiner verträglichsten Seite zu zeigen. Aber das Ziel, der Sonntagabend, für den Hartmut sicherlich so etwas zweidimensional Klischeehaftes wie ein Dinner bei Kerzenlicht geplant hatte, würde für all die Mühen entschädigen. Es wäre genau der rechte Zeitpunkt und die nahezu perfekte Umgebung, um ihm zu sagen, wie sie wirklich über ihn dachte. Gerne lauter. Und gerne in der Präsenz möglichst vieler anderer Menschen. Diese Überlegungen beruhten freilich auf der Annahme, daß Hartmut nicht schon die ersten Stunden ihrer Zusammenkunft dazu benutzen würde, seine Idiotie in ungeahnter Deutlichkeit zur Schau zur stellen. Aber genau das war geschehen. Nachdem er sie genötigt hatte, den vorbildlich ausgeschilderten Wanderweg zu verlassen, um auf immer einsameren und streckenweise kaum mehr wahrnehmbaren Pfaden einer angeblich auf seiner Karte eingezeichneten, spektakuläreren Route zu folgen, und nachdem das einzige Spektakel, das sich eingestellt hatte, jenes der Furcht vor einer Übernachtung unter freiem Himmel war, hatte Elke erkannt, daß sie nicht mehr über genügend Energie verfügte, um derlei Programmpunkte bis zum Sonntagabend über sich ergehen lassen zu können. So sie es noch zurück in ihr Hotel schafften, würde sie das morgige Frühstück, spätestens jedoch das gemeinsame Mittagessen dazu verwenden, die Brücke, die sie noch verband, vor seinen Augen in kleine Trümmerstücke zu zerlegen, würde sich dann mit dem Taxi nach Meran bringen lassen und dort den allernächsten Zug besteigen, der zurück nach Deutschland fuhr.

      Hartmut streifte seinen Wanderrucksack ab, stellte ihn an den Wegesrand und zog die lieblos zusammengerollte Karte heraus. Daß er mal wieder auf die Karte sah, war ebenfalls neu. Es war an sich auch völlig zwecklos, denn Hartmut hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wo sie sich hier befanden. Solange es also keine eindeutigen Anhaltspunkte gab – einen Bachlauf (am besten mit einem Schild, das dem Gewässer einen auf der Karte verzeichneten Namen zuordnete), eine markante Brücke oder sogar eine Siedlung – war es aufs Lächerlichste absurd, was er da tat. Aber seine Handlung bestärkte Elke in der Annahme, daß er etwas hinter der Hügelkuppe entdeckt hatte und nun einen Weg suchte, sein Ego ausreichend zu befriedigen.

      »Eigentlich müßte hier eine Ortschaft sein«, murmelte Hartmut laut genug, daß Elke ihn verstehen konnte.

      Sie schüttelte leicht den Kopf und marschierte mit unverändertem Tempo an ihm vorbei, wobei sie jedoch einen schnellen Blick auf die aufgeschlagene Karte warf und dabei feststellte, daß der Finger ihres Mannes gestellt über einen Bereich fuhr, in dem alles andere als eine Ortschaft eingezeichnet war. Hartmut machte auf Schau. Hinter dem Hügel, da war sie sich nun ziemlich sicher, würden sie auf einen Ort stoßen, dessen Namen Hartmut nur deshalb nicht nennen konnte, weil er noch vor fünf Minuten nicht das Geringste von dessen Existenz gewußt hatte. Er wollte nur halt gern, daß es so aussah. Nicht das zufällige Ergebnis eines Irrlaufes, sondern das logische Resultat gezielter Streckenführung. Kein Glück, sondern Konsequenz. Keine Überraschung, sondern ein minuziös eingehaltener Fahrplan. Es war schwer, die Beherrschung zu behalten. Es war die ganze Zeit schon schwer gewesen, aber nach all den Stunden waren Elkes Nerven auch schon erheblich beansprucht worden. Das machte es noch schwieriger. Sie erreichte die Kuppe der kleinen Anhöhe und sah genau das, von dem sie überzeugt war, daß Hartmut es auch vor nicht allzu langer Zeit gesehen hatte: ein kleines Tal mit einem Dörfchen, dessen wenige einfache Häuser sich beiderseits einer langen Durchgangsstraße aufreihten, wobei sie sich mit den Rückseiten gegen die sanft ansteigenden Flanken des Talkessels lehnten. Aus den Fenstern mancher Häuser strahlte ein warmes, goldgelbes Licht. Andere besaßen kleine Laternen an den Haustüren, die gleichermaßen ein Gefühl von Zuflucht, Wärme und Geborgenheit verbreiteten. Elke atmete tief durch. Einerseits fühlte sie eine deutliche Erleichterung, wie ein Schiffbrüchiger, der eine Insel erreicht. Andererseits war da aber auch der neu entstandene Zorn über ihren Mann, der sich sogar jetzt nicht entblödete, ein peinliches Schauspiel aufzuführen, um seine eigenen Unzulänglichkeiten zu verdecken. Sie spürte förmlich, wie Hartmut sie von jenseits des Hügels anstarrte, wie er darauf lauerte, daß sie in Jubel ausbrach, womöglich gar zu ihm zurücklief, ihn umarmte und ob seines Orientierungssinnes bewunderte. Doch dazu hatte sie nicht mehr die Kraft. Und vielleicht auch noch zu viel Selbstachtung. Also ging sie einfach weiter, ohne auch nur einen kurzen Augenblick innezuhalten. Bereits nach ein paar Metern hörte sie deutlich die beschleunigten Schritte hinter sich, als Hartmut sich beeilte, schnell den Hügel zu erklimmen und einen letzten, beschämenden Versuch zu unternehmen, sein Gesicht zu wahren.

      »Hab’ ich’s nicht gesagt?« triumphierte er also mit gespielter Überraschung, als auch er wieder nah genug herangekommen war.

      Elke blieb stehen und schloß müde die Augen. »Und wie heißt der Ort, Hartmut?« fragte sie. Vom Tonfall her war die Frage ein Zwitter zwischen unterwürfiger Achtung und beißender Ironie. Es war ihr selbst nicht klar, welchen Ausdruck sie ihrer Stimme geben wollte.

      »Muß ich auf die Karte gucken«, lachte Hartmut. »Ist aber doch auch egal, welchen Namen das Nest hat. Hauptsache, wir sind genau da, wo wir hinwollten.«

      Das ist hauchzart an der Wahrheit vorbei, und du weißt das, dachte Elke zerknirscht. Du bist wahrscheinlich der Meinung, daß du für uns beide denkst. Aber so wie ich das sehe, wollten wir auf einem Rundkurs wandern, der uns wieder zurück nach Schlanders geführt hätte, wenn nicht Herr Superschlau auf die Idee gekommen wäre, eine vorteilhafte Abkürzung einzuschlagen. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir jemals die Absicht hatten, das nette Dorf Nirgendwo im Weißnicht-Tal zu besuchen. Also versuch’ jetzt nicht, so zu tun, als sei das dein großer Wunsch gewesen. »Wenn du meinst«, seufzte sie schließlich und setzte sich wieder langsam in Bewegung.

      »Komm schon!« rief Hartmut mit ungebremster Fröhlichkeit. »Das ist doch ein hübsches Dorf. Und bestimmt fährt von hier aus ein Bus nach Schlanders.«

      Er schob sich neben sie und versuchte, ihr seinen Arm um die Schulter zu legen, aber Elke machte einen seitlichen Schritt auf den Straßenrand zu, um der ungewollten Geste zu entgehen. Dabei entdeckte sie den großen, rotweißen Kilometerstein, der statt eines Ortsschildes aufgestellt worden war.

      »Wurmfleuth«, entzifferte sie mühsam die verschnörkelten Buchstaben, welche die Witterung im Laufe der Zeit beinahe bis zur Unkenntlichkeit aus dem Stein radiert hatte. »Ob der Ort so heißt? Wurmfleuth?« Es ärgerte sie schlagartig, daß sie Hartmut eine solche Frage gestellt hatte, nachdem sie seit Stunden (und verstärkt in den letzten Minuten) zu der unverrückbaren Überzeugung gelangt war, daß von allen Lebensformen auf dieser Erde Hartmut Kron diejenige war, die am wenigsten wußte, wo sie sich gerade befand.

      »Es ist ein Ort«, sagte Hartmut, um einer direkten Antwort auszuweichen. Und so plump und blöde dieser Spruch war, er war tatsächlich das Klügste, was er seit langer Zeit von sich gegeben hatte. Dies hier war eine Ortschaft. Und ein Verkehrsmittel, das sie zurückbrachte nach Schlanders (und von dort nach Meran, und von dort endlich wieder nach Hause), konnte ihretwegen aus Dörfern abfahren, die heißen mochten wie sie wollten. Hauptsache, man kam von dort aus wieder fort. Um mehr ging es gar nicht.

      Je näher sie den ersten Gebäuden kamen, desto stärker wurde in Elke die Befürchtung, eine herbe Enttäuschung erleben zu müssen. Die Straße, die den Ort durchschnitt, war nicht befestigt, sondern von gleichem steinig-schlammigen Charakter wie die letzten Kilometer des Wanderweges. Zudem sah sie nicht so aus, als würden regelmäßig Busse auf ihr verkehren. Es gab auch keine Anhaltspunkte für eine Haltestelle; ein kleines Wartehäuschen etwa, an dessen Wand ein Fahrplan befestigt gewesen wäre. Tatsächlich gab es überhaupt nichts, das auf das Vorhandensein irgendeines motorisierten Vehikels deuten ließ; kein Taxi, kein privater PKW, noch nicht einmal ein alter Traktor, der womöglich am Wegesrand abgestellt worden war. Wenn nicht hinter den Fenstern der Schein von Licht und Wärme zu erkennen gewesen wäre, so hätte man sogar das bloße Vorhandensein von Menschen in Frage stellen können. Die Szenerie wirkte so erstarrt wie ein verstaubtes, in depressiven Farben gehaltenes Ölgemälde, das niemand mehr anschauen mochte. Elke spürte, wie sich die unverhoffte Erleichterung über die Rückkehr in die Zivilisation abrupt in ihr Gegenteil verkehrte. Offenbar stand ihre Geduld noch vor einer weiteren mühevollen Prüfung.

      Hartmut sah die ganze Angelegenheit freilich von einer völlig anderen Warte. Auch wenn er natürlich versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, so sprach sein beschwingter Gang und eine urplötzlich in ihn zurückgekehrte gute Laune eine eigene Sprache. Er hatte eine Extraportion Endorphine erhalten, nachdem er sich von der Last befreit gesehen hatte, Elke das Übernachten unter freiem Himmel schmackhaft machen zu müssen. Somit war das erste Haus des Ortes bereits von ihm erreicht worden, als seine Frau sich gerade mal zögerlich ein paar Schritte von dem zuvor entdeckten Kilometerstein fortbewegt hatte. Das Gebäude war ein altes, aus unbehauenen Steinen errichtetes Haus, dessen Front von einer schweren Holztür und zwei bleiverglasten Fenstern durchbrochen wurde, durch die man verschwommen in einen größeren Raum voller Tische und Stühle blicken konnte. Ein Holzschild, das an einer eisernen Vorrichtung aufgehängt worden war und rechtwinklig zur Fassade über der Tür im leichten Wind schwang wie eine zu sehr gestärkte Fahne, verkündete schlicht Herberge. Das Schild war von Hand beschriftet worden, die Buchstaben von der gleichen, pittoresken Schnörkelhaftigkeit wie jene auf dem Stein am Ortseingang. Diese Schriftzeichen jedoch zeugten von einer erheblichen Unbeholfenheit des Schreibers, was schon allein dadurch erkennbar wurde, daß die Schrift zum Ende des kurzen Wortes hin immer kleiner wurde. Trotzdem hatten es die Errichter seinerzeit dabei belassen. Entweder schien das Ergebnis ihren eigenen Erwartungen bereits mehr als entsprochen zu haben, oder sie hatten befunden, daß der reinen Zweckmäßigkeit hiermit Genüge getan worden sei. Hartmuts Gesicht spiegelte eine Mischung aus Stolz und Glück wider, und er baute sich vor der Tür des Hauses auf, als ob er für ein Foto posieren wollte. Elke fand, daß er da stand wie ein Großwildjäger, der siegreich einen Fuß auf den erlegten Löwen stellte, die Brust herausdrückend und den Kopf in einer Pose unvergleichlicher Arroganz in den Nacken legend wie ein Held der Antike. Der Vergleich mit der Haltung des Jägers war allein schon deshalb passend, weil beiden dieser Eindruck von Lächerlichkeit anhaftete; der sichtbare Wunsch nach Bewunderung für eine nicht sonderlich bewunderungswürdige Tat und das selbstverliebte Bad im ebenfalls selbstgeschaffenen Pathos. Daß ihr Mann noch mit beiden Füßen auf dem steinigen Boden stand und nicht auch das letzte Klischee der Siegerpose kopierte, lag schlicht daran, daß es nichts gab, das als Ersatz für den sinnbildlichen Löwen herhalten konnte. Ansonsten hätte er auch davor nicht zurückgeschreckt. In diesem Punkt war Elke sich einigermaßen sicher. Jedenfalls behielt Hartmut seine starre Haltung so gewissenhaft bei wie eine Wachsfigur, bis sie endlich zu ihm aufgeschlossen hatte.

      »Gehen wir rein?« fragte Hartmut und deutete mit dem Daumen über seine Schulter.

      Oh nein, dachte Elke verbittert. Wie kommst du nur auf eine so unsinnige Idee? Laß uns lieber wieder auf irgendeinem unpassierbaren Pfad durch das Gestrüpp brechen. Ich habe mich doch so auf eine Nacht im Matsch gefreut, das weißt du doch.

      Hartmut strahlte sie an. Er wartete tatsächlich auf eine Antwort. Elke preßte die Lippen aufeinander und zwang sich, ihre Mundwinkel leicht zu heben. Das mußte ihm genügen. Schließlich drehte Hartmut sich um, klopfte vorsichtshalber kurz an die Tür und stemmte sich dann kräftig dagegen.

      Der große Raum jenseits der schweren Eingangstür war eine Wirtsstube, die mit sehr einfachen Tischen und Stühlen eingerichtet war. An der Stirnseite gab es einen offenen Kamin, in dem ein gemütliches Feuer brannte. Auf den Tischen befanden sich weder Tücher noch solche Dinge wie Blumenvasen, Salzstreuer oder Aschenbecher. An den Wänden des Raumes erkannte man die gleiche steinerne Struktur wie sie an der Fassade zutage getreten war; es gab kein Bild oder sonst einen dekorativen Gegenstand, der das Ambiente verschönert hätte. Alles in allem war diese Örtlichkeit so spartanisch gestaltet, daß sie an Schlichtheit kaum mehr zu unterbieten gewesen wäre. Es mangelte sogar an Gästen, denn als sich die Tür hinter ihnen knarrend geschlossen hatte, erkannte Hartmut in der Frau, die hinter einem gemauerten Tresen stand und die sich ihnen jetzt freundlich lächelnd zuwandte, die einzige Person, die sich augenblicklich außer ihnen selbst in diesem Raum befand. Die Frau war von kleiner aber kräftiger Statur. Sie trug ein einfaches, augenscheinlich selbstgefertigtes Kleid und darüber eine ebenso derbe wie fleckige Lederschürze. Die Haare hatte sie zu einem Dutt auf dem Hinterkopf zusammengeflochten, und als Kopfbedeckung trug sie etwas, das Hartmut spontan an eine gehäkelte Tischdecke erinnerte. In ihrem Erscheinungsbild fügte sie sich perfekt in ihre Umgebung ein. Diese unmittelbare Umgebung wurde von einer offenen Feuerstelle dominiert, über der ein großer Kupferkessel schwebte. Desweiteren gab es ein großes Regal, in welchem eine Vielzahl von Flaschen, Krügen und anderen Gefäßen aufbewahrt wurde. Zwei massige Holzfässer, die auf knorrigen Böcken ruhten, flankierten einen offenen Türbogen, durch den man auf eine ins Obergeschoß führende Treppe sehen konnte.

      »Guten Abend«, sagte die Frau mit einer sanften Stimme, während sie herzlich lächelte. Sie sprach einen eigentümlichen Dialekt, einen linguistischen Verschnitt aus jenem südtiroler Deutsch, das die Menschen überall in dieser Region sprachen und einem abgestandenen, lokalen Akzent, der vermutlich durch die Abgeschiedenheit dieses Ortes bewahrt werden konnte und den man aller Voraussicht nach auch sonst nirgendwo mehr zu hören bekam. Sie kam um ihren Tresen herum und streckte den beiden Ankömmlingen grüßend die Hand entgegen.

      Elke schmunzelte (das erste Mal seit Stunden), als sie Hartmuts verblüfften Blick sah. Er starrte die Hand der Wirtin an, als ob diese damit soeben ein Kunststück vorgeführt hätte. Der Umstand, daß man ihn so persönlich willkommen heißen konnte, mußte ihm völlig abwegig erscheinen. Üblicherweise, dachte Elke, krächzte ihm lediglich ein »Willkommen bei McDonald’s« aus einem Lautsprecher entgegen. Sie selbst hatte ihr Befremden, das sie angesichts des urigen Charakters dieser Räumlichkeit verspürt hatte, schon sehr bald wieder abgelegt. Dies hier entsprach ungleich mehr der landestypischen Ursprünglichkeit ihres Reisezieles als die immer gleichen Hotels und Restaurants in den Städten, die sich eigentlich nur durch den Ausblick aus dem Fenster von ihresgleichen in anderen Ländern unterschieden. Es hatte ein wenig von stehengebliebener Zeit, eine Einfachheit, die nur deshalb bewahrt werden konnte, weil dem kleinen Ort die Gnade zuteil geworden war, von den Touristenströmen ignoriert worden zu sein. Es hätte nicht viel gefehlt und Elke hätte sich eingestanden, daß sie sich glücklich schätzen mußte, sich Hartmut so blindlings anvertraut zu haben. Ganz so weit war es noch nicht, aber zumindest war ihr Gram über die Aussicht verloren gegangen, möglicherweise erst morgen wieder von hier fortzukommen.

      Der Händedruck der Wirtin war fest und angenehm. Als ob Hartmut eine Demonstration benötigt hätte, schloß er sich der Geste an, obwohl er noch immer äußerst überrascht zu sein schien.

      »Möchten Sie etwas essen?« fragte die Wirtin mit unverminderter Freundlichkeit und wies dabei mit ausgestrecktem Arm auf die allesamt unbesetzten Tische.

      »Warum nicht?« antwortete Hartmut lachend und rieb sich erwartungsfroh die Hände. Er tauschte einen kurzen, vergewissernden Blick mit Elke aus, und als er sah, daß auch seine Frau zustimmend nickte, steuerte er zielbewußt den erstbesten Tisch an, stellte seinen Rucksack auf dem Boden ab und hängte seine Jacke über die Lehne eines Stuhles.

      Elke folgte dem Beispiel und setzte sich ihm gegenüber, während die Wirtin hinter den Tresen zurückkehrte und dabei eine fröhliche Melodie summte.

      »Das ist ja ein richtiges Museum hier«, flüsterte Hartmut, indem er sich etwas über die Tischplatte beugte. »Hast du den Leuchter gesehen?« Er verdrehte die Augen nach oben und zuckte kurz mit den Brauen.

      Elke hob den Blick und erkannte ein großes Wagenrad, das an drei schmiedeeisernen Ketten von der Decke hing und auf dem reihum dicke, schwere Kerzen steckten wie auf einer Geburtstagstorte. »Das paßt doch gut hierher«, sagte sie leise. »Besser jedenfalls als Neonröhren oder Halogenspots.«

      »Vielleicht haben die hier noch nicht einmal Strom«, frotzelte Hartmut. »Bin mal gespannt, wie ausgefallen die Speisekarte aussieht.«

      Elke sah, wie sich die Wirtin wieder ihrem Tisch näherte. In jeder Hand trug sie einen Teller, aus dem der Stiel eines Löffels ragte und über dem eine dichte Dampfwolke hing. »Hoffentlich kannst du mit der Enttäuschung leben«, raunte sie.

      Die Wirtin stellte die beiden Teller vor ihnen auf dem Tisch ab. »Eintopf«, erklärte sie. »Unser Tagesgericht.« Sie strahlte ihre beiden Gäste an, als ob sie für die nichtbestellte, weil alternativlose Mahlzeit ein Zeichen der besonderen Zustimmung erwartete. »Etwas Wein dazu?« fragte sie.

      »Gerne«, erwiderte Elke und bemühte sich nun selbst um ein größtmögliches Maß an Herzlichkeit.

      Hartmut zog unterdessen den etwas klobig wirkenden Löffel aus seinem Eintopf und begann, damit lustlos in der zwar würzig riechenden, jedoch unappetitlich farblos aussehenden Masse auf seinem Teller herumzustochern. »Soviel zur Speisekarte«, sagte er verhalten, nachdem die Wirtin hinter den Tresen zurückgekehrt war, dort einen Steingutkrug aus dem Regal genommen hatte und diesen nun an einem der Fässer mit Rotwein befüllte.

      Elke führte ihren Löffel an den Mund, pustete kurz darüber und probierte dann zaghaft ein wenig von der servierten Speise. »Kann man aber gut essen«, urteilte sie und fuhr mit dem Essen fort, wobei sie die löffelweise in ihren Mund beförderten Portionen allmählich vergrößerte.

      Auch Hartmut traute sich nun heran, und nachdem er festgestellt hatte, daß das einfache Gericht, welches nicht seinen gewöhnlichen Eßgewohnheiten entsprach, durchaus schmackhaft und mit Sicherheit sättigend war, dauerte es nicht lange, bis er sich dem Tempo seiner Frau angepaßt hatte.

      Die Wirtin kehrte an den Tisch zurück und stellte den Krug voll Wein sowie zwei ebenfalls aus Steingut hergestellte Trinkbecher ab, wobei sie es ihren Gästen überließ, sich selbst einzuschenken. »Wenn ich noch irgend etwas für Sie tun kann«, begann sie einen unvollendet zu belassenden Satz, verschränkte ihre Hände ineinander wie zu einem Gebet und blickte Elke dabei fragend an, als ob sie schon damit gerechnet hätte.

      »Ja«, sagte Elke kauend, goß sich einen Schluck des Weines in ihren Becher und trank hastig einen großen Schluck. Der Wein war süß und süffig. »Können Sie uns sagen, wie wir von hier aus am schnellsten nach Schlanders kommen?«

      »Nach Schlanders?« wiederholte die Wirtin nachdenklich. »Das ist ganz schön weit.«

      Ich weiß, dachte Elke. Ich war gezwungen, die ganze Strecke zu Fuß zu gehen. Und das will ich nicht noch einmal tun. Deshalb frage ich ja.

      »Fährt vielleicht ein Bus dorthin?« bot Hartmut eine mögliche Lösung an, nachdem die Wirtin sichtbar nachzudenken begonnen hatte.

      »Ein Bus«, murmelte sie dann, aber sie verzog das Gesicht dabei, als ob er nach dem nächsten Raumschiff in Richtung Alpha Centauri gefragt hätte.

      Elke sah Hartmut über den Tisch hinweg mitleidvoll an. Sie selbst hatte sich von der Vorstellung eines bequemen Linienbusses schon beim ersten Anblick der Dorfstraße verabschiedet. Hier ging es einzig und allein darum, ob es eine Alternative zum Fußmarsch gab. Es war wie beim Eintopf. Wenn man hier etwas essen wollte, dann schien es Glück genug zu sein, überhaupt etwas zu kriegen. Eine Menüwahl oder die Hoffnung auf ein bestimmtes Gericht war der pure Luxus.

      »Der Grubner kann Sie mitnehmen«, sagte die Wirtin dann. »Nicht ganz bis nach Schlanders, aber wenigstens bis zur Hauptstraße, wenn er morgen Holz holt. Sie können auf dem Fuhrwerk mitfahren. Ich werde mich darum kümmern.«

      »Das heißt, wir müssen hier übernachten?« fragte Elke zögerlich, obwohl sie die Antwort ja bereits gehört hatte. Im gleichen Moment erschien ihr die Frage dann auch ebenso überflüssig wie taktlos.

      Die Wirtin quittierte es jedoch mit gleichbleibender Fröhlichkeit. »Ja, aber das ist kein Problem«, sagte sie. »Wir haben oben eine schöne Kammer. Sie wird Ihnen gefallen. Die Betten sind neu.«

      »Tja«, sagte Hartmut und kratzte die letzten Reste Eintopf von seinem Teller. »Das werden wir wohl in Anspruch nehmen müssen.«

      Die Wirtin nickte zustimmend. Dann, als ob sie die Momente überbrücken müßte, bis auch Elke ihren Teller leergegessen hatte, wandte sie sich an Hartmut und fragte: »Sie sind nicht von dort, oder? Aus Schlanders, meine ich.«

      »Nein«, antwortete Hartmut. »Meine Frau und ich«, (er betonte die ersten beiden Worte mit hörbarer Deutlichkeit), »machen dort Urlaub. Wir kommen aus Deutschland.«

      »Ah, aus Deutschland«, wiederholte die Wirtin träumerisch. »Da haben Sie eine weite Reise hinter sich. Und daß Sie dann ausgerechnet zu uns nach Wurmfleuth kommen ...«

      »Das war mehr ein Zufall«, unterbrach Hartmut.

      »Wir haben uns verirrt«, mischte sich Elke ein und schob ihren nun ebenfalls leeren Teller ein Stück von sich fort. Sie sah, wie Hartmut zum Protest ansetzen wollte (und gleichsam seine Verwunderung darüber, daß sie gerade kurzerhand erklärt hatte, über die Geschehnisse des Nachmittags durchaus im Bilde gewesen zu sein), aber die Wirtin kam ihm zuvor.

      »Das dachte ich mir schon«, gestand sie. »Unseren Gästen ergeht es eigentlich immer so.«

      »Ich möchte wetten, Ihre Gäste sind allesamt solche naturverbundenen Menschen von weit außerhalb wie wir und weniger Leute aus der Gegend«, sagte Elke augenzwinkernd.

      »Ja«, antwortete die Wirtin bekräftigend. »Zuletzt waren hier zwei junge Frauen, die kamen aus Frankreich. Stellen Sie sich das nur vor. Was treibt diese Menschen bloß so weit in die Welt hinaus?« Sie redete, als ob Frankreich eine wüste Gegend auf der Rückseite des Mondes sei. »Aber wir freuen uns über jeden Gast«, schloß sie dann. »Und wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen jetzt gerne die Kammer.«

      Das Zimmer, das sie über die gefährlich ausgetretene Treppe erreicht hatten, befand sich unmittelbar unter dem Dach des Hauses. In ihm standen zwei verdächtig kurz wirkende Einzelbetten, die in einer Ecke des Raumes ein L bildeten, ein aus einfachen Brettern zusammengesetzter Kleiderschrank sowie ein winziges Tischchen, auf dem sich eine Waschschüssel aus weißem Blech und ein wassergefüllter Krug befanden. Die Dachschräge verlieh der Kammer eine bedrückende Enge, und das einzige Fenster war ein kleines Luk knapp unterhalb der Decke, durch welches das schwache Mondlicht hereinfiel. Die Wirtin hatte ihnen den Weg nach oben mit einem vorsintflutlichen Kerzenhalter gewiesen, und sogar die einsame Flamme vermochte es, das Zimmer in seiner Gesamtheit auszuleuchten.

      »Das Wasser in der Karaffe ist frisch«, erläuterte die Wirtin. »Nachtgeschirr steht unter den Betten und die bewußte andere Örtlichkeit befindet sich direkt hinter dem Haus.« Sie wartete auf eine Reaktion ihrer Gäste, und als ein paar Augenblicke ohne eine solche verstrichen waren, händigte sie Hartmut den Kerzenhalter aus und sagte: »Also, machen Sie es sich gemütlich. Ich muß ihnen jetzt Bescheid sagen gehen.«

      Elke sah ihr nach, wie sie behende durch die Dunkelheit die Treppe hinabging. Nach einer Weile hörte sie das tiefe Knarren der Eingangstür, als die Frau auf die Straße hinaustrat. »Bescheid sagen?« rätselte Elke.

      »Diesem Mann«, erklärte Hartmut. »Der uns morgen mitnehmen soll.«

      »Ach ja«, sagte sie und setzte sich auf eines der Betten, welches darauf sofort mit einem gequälten Ächzen reagierte. »Hat sie nicht gesagt, die Betten seien neu?«

      »Sie hat auch gesagt, sie hätte eine schöne Kammer«, erwiderte Hartmut, während er den Schrank öffnete. Er war leer. Er war sogar absolut leer, denn es gab weder Kleiderstangen noch irgendeine Art von Einlegeböden. »Vielleicht hat sie von der Präsidentensuite gesprochen, eine Tür weiter. Bestimmt hat sie uns nur versehentlich in die Abstellkammer geschoben. Die mit dem Nachtgeschirr unter den Betten.«

      Elke öffnete ihre Wanderschuhe und streifte sie nacheinander ab. Es schien, als ob ihre Füße sofort an Volumen zulegten, kaum daß sie ihrem geschnürten Gefängnis entronnen waren. Sie zog die Beine an und begann damit, ihre Fußsohlen kräftig mit beiden Händen durchzuwalken.

      Hartmut hatte unterdessen mit ungewöhnlicher Neugier auf den Boden gestarrt, der aus rohen, größtenteils schlimm verzogenen Dielen bestand und sich nunmehr darauf niedergekniet. »Guck dir das an«, meinte er voller Erstaunen. »Die Spalten zwischen den Brettern sind teilweise so groß, daß man ein Butterbrot durchschieben könnte.« Er sank mit seinem Gesicht so tief herab, daß seine Nasenspitze knapp davor stand, den Boden zu berühren. »Man kann von hier aus direkt in die Wirtsstube sehen«, ergänzte er.

      Elke erwiderte nichts. Zum einen war sie viel zu sehr damit beschäftigt, ihre verspannte Fußmuskulatur zu lockern, zum anderen gefiel ihr der Gedanke nicht, mit Hartmut ein Zimmer teilen zu müssen. In ihrem Hotel in Schlanders hatte sie sich vorsorglich ein Einzelzimmer reservieren lassen, da sie bereits davon ausgegangen war, daß Hartmut, der sich erboten hatte, die Buchungen zu übernehmen, sicherlich ein gemeinsames Zimmer eingeplant hatte. Für sie war es daher wenig überraschend, daß tatsächlich ein gebuchtes Doppelzimmer für sie bereitgehalten worden war. Die Überraschung hatte also lediglich bei Hartmut gelegen, der diesen Raum jetzt nicht nur allein bezahlen, sondern auch allein bewohnen durfte. Um so ärgerlicher schien es, daß sie nun aufgrund der Umstände trotzdem die erste Nacht in einem gemeinsamen Zimmer verbringen mußten. Elke nahm sich vor, morgen möglichst früh aufzustehen und sich heute abend alsbald schlafen zu legen. Es schien nur angebracht, mit dem Zubettgehen zu warten, bis die Wirtin zurückgekehrt sein würde. Es war nicht auszuschließen, daß sie ihre Gäste noch darüber informieren wollte, wie und wann sich die vorgeschlagene Mitfahrgelegenheit ergeben würde.

      Hartmut stieß ein leises, geringschätziges Lachen aus, als er den emaillierten Nachttopf unter einem der Betten hervorholte. »Ich frag’ mich, was mit den Dingern passiert, wenn man sie wirklich mal benutzt hat«, sagte er. »Ob die Leerung wohl zum Zimmerservice gehört? Oder meinst du, man muß das selbst ... he, was ist das denn?« Hartmut ließ sich bäuchlings auf dem Boden fallen und starrte nun angestrengt in den Winkel unter dem Bett, der zuvor von dem Nachtgeschirr versperrt worden war. Dann schob er sich mit weit von sich gestreckten Armen ein Stück weit unter das Bettgestell. Elke hörte ein leichtes Schaben und Kratzen, vermengt mit Hartmuts Keuchen. Schließlich kam er umständlich wieder herausgekrabbelt. Sein Hemd und seine Hose waren mit enormen Staubflocken bedeckt, die allesamt aussahen wie graue, bauschige Regenwolken. In seiner Hand hielt er einen ebenso verstaubten Rucksack. »Den hat jemand hier vergessen«, schloß er scharfsinnig.

      »Du kannst ihn ja der Wirtin mitgeben«, entgegnete Elke müde. »Die kommt gleich sicher noch mal rein.«

      Hartmut machte nicht den Eindruck, als hätte er irgend etwas von dem, was seine Frau gesagt hatte, gehört, geschweige denn verstanden. Er war mit seinem Fund in eine andere, von der Außenwelt völlig abgeschirmte Dimension verschwunden und betrachtete den kleinen, blauen Nylonrucksack mit der Faszination eines Goldgräbers, der auf eine reiche Ader gestoßen ist. Er öffnete die beiden Gurtschnallen mit nervösen Fingern und schüttete den gesamten Inhalt kurzerhand auf sein Bett.

      »Bist du blöd?« fragte Elke mit ungewollter Schärfe. »Das ist nicht dein Rucksack, Hartmut.«

      »Ich habe ihn gefunden«, erklärte er lapidar. Es war die gleiche infantile Logik, mit der er die Dinge grundsätzlich in seinem Interesse und möglichst zu seinem Nutzen auszulegen pflegte.

      Elke wurde wieder einmal unmißverständlich klar, daß sie Hartmut nicht mochte. Es waren die kleinen Dinge im Leben, die sie an ihm störten. Davon gab es viel zu viele und bedauerlicherweise auch immer wieder neue.

      Hartmut sortierte den Inhalt unterdessen nach Aspekten der Brauchbarkeit. Er öffnete den Reißverschluß eines bunten Schminktäschchens, spähte kurz hinein, schloß es dann wieder und warf es an das Fußende, wo bereits ein kleiner Teddybär und in einen Waschlappen eingewickelte Zahnputzutensilien den Nicht-zu-gebrauchen-Haufen bildeten. »Frauenkram«, kommentierte er mürrisch. Hartmut ließ die Seiten eines Taschenbuches durch seine Finger gleiten, hielt das Buch anschließend am Rücken fest und schüttelte es, um nicht Gefahr zu laufen, etwas Wertvolles zu übersehen, das möglicherweise zwischen den Seiten steckte. Als sich seine Hoffnung nicht erfüllte, warf er das Buch zu den anderen aussortierten Gegenständen. Ein Schlüsselbund ließ ihn zwischenzeitig kurz innehalten, als er ihn in seiner Handfläche hielt, so als ob er sein Gewicht abschätzen wollte und dabei krampfhaft überlegte, ob er ihm von Nutzen sein könnte. Diesmal schien bereits ein gewisser Trennungsschmerz dabei zu sein, als er die Schlüssel als unbrauchbar klassifizierte. Aber Hartmut hatte sich den unzweifelhaften Höhepunkt seiner Plünderung bewußt bis zum Schluß vorbehalten. Elke spürte, wie sie von der Gier und dem offensichtlich fehlenden Unrechtsbewußtsein ihres Mannes angewidert wurde, während Hartmut eine bonbonfarbene Geldbörse öffnete und zielstrebig einen dünnen Stapel Banknoten herauszog. »Na also«, sagte er breit grinsend. Er sah Elke dabei nicht an, aber es schien eindeutig als Rechtfertigung für seine Tat an ihre Adresse gerichtet gewesen zu sein.

      »Das willst du doch wohl nicht klauen, oder?« appellierte Elke an sein Gewissen. Es war natürlich von vornherein so vergebens wie der Appell an einen Straßenköter, nicht auf den Gehweg zu scheißen.

      »Du würdest die Kohle hier vergammeln lassen, was?« fragte Hartmut bissig.

      »Nein. Ich würde sie demjenigen zurückgeben, dem sie gehört.«

      »Sicher würdest du das«, sagte er sarkastisch, faltete die Geldscheine zusammen und steckte sie sich in die Hemdentasche. »Außerdem, woher willst du wissen, wessen Portemonnaie das ist? Hier ist nichts drin außer ...« Er zögerte kurz und zog dann ein kleines Plastikkärtchen hervor. »Doch, hier ist was«, korrigierte er sich. »Sieht aus wie ein Personalausweis. Was meinst du?« Mit diesen Worten warf er Elke das kleine Kärtchen zu. Es trudelte durch die Luft wie eine angeschossene Frisbeescheibe und landete direkt auf Elkes Kopfkissen.

      »Ja, scheint ein Ausweis zu sein«, bestätigte sie, nachdem sie die Karte skeptisch von beiden Seiten betrachtet hatte. »Ein französischer. Und er gehört einer Jeanne Gaumont. Ebenso wie das Geld in deiner Tasche.«

      Hartmut überhörte auch diese Spitze. »Kannst ihn ja wieder ’reintun, wenn es dein Gewissen beruhigt«, sagte er und warf Elke nun auch die geplünderte Geldbörse zu. Dann klappte er den Rucksack auf, griff beidhändig in den aufgeschichteten Haufen und schaufelte die einzelnen Habseligkeiten lieblos hinein.

      Elke schob gerade den Personalausweis zurück in die dafür vorgesehene Tasche, als sie den Zettel bemerkte, der noch im Scheinfach steckte. »Hier ist auch noch eine Zugfahrkarte«, sagte sie tonlos. »Ein halbes Jahr alt. Derselbe Name. Von Nancy nach Meran und zurück. Die Hinfahrt wurde angetreten. Die Rückfahrt nicht.«

      »Sonst hättest du die Fahrkarte auch kaum in der Hand«, lachte Hartmut.

      Elke merkte, wie ihr Mund trocken wurde und sie sich auf irgendeine nicht näher zu bestimmende Weise unbehaglich zu fühlen begann. »Irgendwas stimmt nicht, Hartmut«, sagte sie unheilvoll. »Es waren Schlüssel in dem Rucksack. Ein Fahrschein für die Heimfahrt. Dazu das ganze Geld. Das vergißt man nicht einfach. Wieviel war es überhaupt?«

      »Eine Menge«, antwortete Hartmut schnippisch und hob arrogant die Augenbrauen. »Natürlich kann man so etwas vergessen. Hier ist der Beweis.« Er klopfte mit der flachen Hand auf seine Brusttasche, so daß man die Geldscheine darin rascheln hörte.

      Elke krabbelte über ihr Bett an den noch immer auf dem Nachbarlager stehenden Rucksack heran und nahm in an sich. »Das glaube ich nicht«, sagte sie trocken.

      Hartmut zuckte mit den Schultern, stieg auf seine Matratze und öffnete das winzige Dachfenster, wobei er sich nicht die Mühe gemacht hatte, zuvor seine Schuhe auszuziehen. Er versuchte, sich hinauszulehnen, aber das Fenster war so klein, daß er lediglich seinen Kopf durchstecken konnte. Mittlerweile war es vollkommen dunkel geworden. Hartmut sah über die wenigen Häuser des Dorfes hinweg, die sich im matten Schein der vereinzelten Laternen so sehr glichen, daß sie nur schwer voneinander zu unterscheiden waren. Auf der unbefestigten Straße dazwischen war niemand zu sehen. Der ganze Ort schien in einer Bewegungsstarre zu verharren. Der Anblick wirkte auf Hartmut wie der einer unterbelichteten Fotografie. »Das ist vielleicht ein trostloses Kaff«, brüskierte er sich. »Kein Mensch auf der Straße. Von Autos mal ganz zu schweigen.« Als er seinen Kopf wieder in das Zimmer hereingeschoben hatte, sah er, wie Elke im Schneidersitz auf ihrem Bett hockte und in das Taschenbuch starrte, das sich in dem Rucksack der Französin befunden hatte. Etwas an ihrem Blick gefiel ihm nicht, aber wenn er ehrlich war, mußte er zugeben, daß ihn seit einiger Zeit bereits an ihrem gesamten Gebaren etwas störte. »Was ist denn das für ein Buch?« fragte er ohne erkennbares Interesse.

      »Ich glaube, es ist ein Reiseführer. Weiß nicht genau, es ist Französisch«, antwortete Elke, bevor sie ihm die gerade aufgeschlagene Doppelseite direkt vor die Nase hielt. »Aber trotzdem habe ich das hier gefunden. Willst du jetzt immer noch sagen, daß hier nichts ungewöhnlich ist?« Sie klang sehr gereizt.

      Hartmut machte sich die Mühe, die hingehaltenen Buchseiten tatsächlich zu betrachten. Auf der linken Seite war eine Zeichnung oder – wahrscheinlicher – ein Kupferstich abgedruckt, der ein nettes Dorf mit einer hübschen Kirche in der Mitte zeigte. Auf der rechten Seite gab es ein Farbfoto einer holprigen Piste, die beidseitig von verfallenen Fundamenten und Ruinen ehemaliger Häuser gesäumt wurde. Es sah aus, wie ein Ort, den ein Erdbeben heimgesucht hatte oder der ein Kriegsschauplatz gewesen war. Bildunterschriften und Textkörper waren für Hartmut ebenso unverständlich wie für seine Frau. Aus dem französischen Artikel sprang ihm lediglich das Wort Wurmfleuth entgegen, das mehrmals verwendet wurde. »Worauf willst du hinaus?« fragte er und merkte dabei, daß er nun auch selbst etwas gereizter klang.

      »So wie ich das verstehe«, entgegnete Elke und starrte nun selbst wieder in das Buch hinein, »sind das beidesmal Ansichten von einem Ort, der Wurmfleuth heißt. Das eine ist ein alter Stich von 1770, das andere ein aktuelles Foto von heute. Aber wenn der Trümmerhaufen auf dem Bild Wurmfleuth ist, was ist dann das da draußen?«

      Hartmut hörte, wie ihre Stimme einzuknicken begann wie bei einem Jungen, der in den Stimmbruch kommt. Es waren die ersten Anzeichen von Streß und Erregung (die bei ihr im nächsten Stadium zu einer ausgewachsenen Hysterie werden konnten), an welche er sich noch gut aus den Zeiten erinnerte, da sie sich regelmäßig über alle möglichen Belanglosigkeiten gestritten hatten. Insofern war es an der Zeit, sie etwas zu beruhigen. »Abgesehen davon, daß wir beide nicht lesen können, was da wirklich steht«, begann er also in einem besänftigenden Tonfall, der ihn selbst überraschte, »könnte es ja auch noch ein anderes Dorf mit gleichem Namen geben. Auch solche Ortsbezeichnungen wie Frankfurt oder Berlin sind das absolute Gegenteil von einmalig. Und selbst wenn es der gleiche Ort ist: vielleicht ist hier mal was passiert, so daß es zu Zerstörungen kam. Eine Explosion, eine Lawine, irgendwas. Dann hat man natürlich alles wieder aufgebaut. Wer weiß, wie alt der Schmöker ist.«

      »Er ist von 2005«, sagte Elke jetzt deutlich lauter. »Und es ist dieser Ort. Er sieht genau so aus wie das Dorf auf dem Kupferstich. Die gleiche Straße, die gleichen Häuser. Bloß die Kirche ist nicht da. Nur die Kirche nicht.«

      »Na also«, sagte Hartmut, so als ob seine Frau damit selbst das allerbeste Argument gegen ihre eigene Theorie geliefert hätte.

      »Und das hier?« grollte Elke, nachdem sie das von Hartmut zuvor nur wenig beachtete Schminktäschchen geöffnet hatte und ein paar kleine Ampullen mit einer transparenten Flüssigkeit darin hervorgeholt hatte. »Was ist das?«

      »Ich weiß nicht«, erwiderte Hartmut ratlos. »Irgendwas Medizinisches?«

      »Es ist Insulin, mein Freund«, sagte sie barsch. »Und du kannst mir meinetwegen erzählen, daß jemand seinen Fahrschein, sein Geld und seine Schlüssel vergißt und im nächsten halben Jahr darauf pfeift, seine Sachen nachträglich zurückzubekommen. Aber das hier vergißt man nicht, wenn man darauf angewiesen ist.«

      Hartmut setzte sich müde auf die Bettkante, stützte sein Gesicht in beide Hände und begann damit, sich die Schläfen mit den Fingerspitzen zu massieren. Er gab sich Mühe, seinen Zustand an körperlicher und geistiger Erschöpfung so gut es ging zu kaschieren, aber jetzt spürte er deutlich, daß ihm für eine Grundsatzdiskussion die notwendige Kraft fehlte. »Jemand hat es vergessen«, resümierte er und in seinem Innern gab er sich selbst den eindringlichen Befehl, von nun an nichts mehr zu diesem Thema zu sagen, ganz gleich, mit welchen versponnenen Ideen Elke noch herauskommen mochte.

      »Ich finde diesen Ort unheimlich«, sagte sie.

      Ihre Stimme war schlagartig sanft und beschwörend, beinahe weinerlich geworden. Es war ein Tonfall, den Hartmut lange – sehr lange – nicht mehr von ihr gehört hatte, und es klang für ihn derart fremdartig doch gleichzeitig auf eine ferne Weise bekannt, daß er zu ihr hinübersah, als ob er sich vergewissern müßte, daß es noch dieselbe Frau war, die mit ihm sprach.

      »Wir sollten vielleicht zusehen, daß wir wieder von hier wegkommen«, ergänzte sie.

      »Klar. Machen wir doch«, antwortete Hartmut und streckte sich auf dem Bett aus. Wie er schon beim ersten Anblick vermutet hatte, war es viel zu kurz, und er stieß mit den Sohlen gegen das Brett am Fußende. »Morgen früh nimmt uns dieser Holzheini mit.«

      »Nein«, unterbrach Elke. »Ich meine, wir sollten jetzt gehen.«

      »Jetzt?« wiederholte Hartmut überrascht. »Wir sind gerade erst angekommen. Du ...« Er zögerte, während er zwischen »du spinnst« und »du übertreibst« hin- und herschwankte. »Du steigerst dich da in was hinein«, wählte er dann eine neutralere Variante aus. »Außerdem mußt du genauso kaputt sein wie ich. Leg’ dich einfach hin, dann schläfst du ’ne Runde und wenn wir morgen in aller Frühe auf dem gemütlichen Holzkarren daherrumpeln, wirst du wahrscheinlich selber den Kopf über deine Sprüche schütteln.«

      Elke schwang die Beine mit unvermuteter Energie aus dem Bett und zog sich ihre Schuhe wieder an. Dann streifte sie hastig die Jacke über und warf sich ihren Rucksack über eine Schulter. Es ging so schnell vonstatten, daß Hartmut ihre Absicht erst erkannte, als sie bereits in der geöffneten Zimmertür stand.

      »Was hast du vor?« fragte er erstaunt.

      »Ich gehe«, erklärte Elke den offensichtlichen Umstand. »Und das solltest du auch tun.«

      »Elke!« rief Hartmut. Er benutzte ihren Namen wie eine Zauberformel, die sie aus einem Trancezustand wieder in die wirkliche Welt zurückrufen sollte. »Da draußen ist es stockfinster. Da kann man nicht so einfach durch den Wald spazieren. Du kommst keine fünfhundert Meter weit. Verläufst dich. Fällst vielleicht einen Hang runter oder noch Schlimmeres.«

      »Noch Schlimmeres?« fragte Elke sarkastisch. »Hier zu bleiben könnte noch schlimmer sein.«

      Ohne ein weiteres Wort machte sie leise die Tür hinter sich zu. Hartmut starrte fassungslos hinterher. Eigentlich erwartete er, daß Elke jeden Moment wieder hereinkam, fröhlich lachte und so etwas wie »Reingefallen« rief. Nur so schien ihr Verhalten erklärbar zu sein.

      Tatsächlich schob Elke noch einmal ihren Kopf in das Zimmer. Aber sie lachte nicht. »Hat sie gesagt, daß sie ihm oder ihnen Bescheid sagt?« fragte sie mit einer Stimme, die so kalt und brüchig war wie eine Eisblume am Fensterglas.

      Hartmut seufzte hörbar. »Es gibt hier im Ort einen Mann, der mit einem alten Fuhrwerk Holz transportiert«, begann er in einer genervten Art zu erklären. Er betonte jede einzelne Silbe so überdeutlich, als ob er mit einem völligen Dummkopf spräche.

      Elke schnitt ihm kurzerhand das Wort ab. »Hat sie ihm oder ihnen gesagt?« fragte sie noch einmal, und als Hartmut sie anstelle einer Antwort nur mit einem leeren Blick fixierte (es schien nicht klar zu sein, ob er zauderte, weil er ihre Frage gar nicht kapiert oder eben weil er sie verstanden hatte), sagte sie noch: »Denk darüber nach, Hartmut. Aber besser nicht zu lange.« Dann schloß sie die Tür ein zweites Mal. Und diesmal ging sie wirklich.

      Das steile Treppenhaus hinunterzugelangen war für Elke nicht einfach. Da es keinerlei Beleuchtung gab und sie die Kerze natürlich bei Hartmut im Zimmer zurückgelassen hatte, war die einzige Lichtquelle der vage Schein, der aus der offenen Tür zur Wirtsstube hereinfiel und gerade einmal die untersten beiden Stufen erhellte. So hielt sie mit beiden Händen das abgegriffene Geländer fest und tastete sich vorsichtig mit den Fußspitzen voran wie ein unbeholfener Bergsteiger. Die Treppe knarrte bei jedem Schritt, was Elke innerlich immer mehr aufwühlte. Ihr Nervenkostüm war völlig verschlissen. Fast schon rechnete sie damit, daß im nächsten Augenblick das Licht verstellt werden könnte, daß sich die Gestalt der Wirtin in das Treppenhaus schob und sie dabei ertappte, wie sie sich einer Diebin gleich in der Nacht hinunterschlich. Wenn das geschehen würde – Elke war sich in keiner Sache so sicher wie in diesem Punkt –, dann würde sie anfangen zu kreischen. So schrill und so hysterisch, daß es ihr die Stimmbänder zerreißen würde. Und auf den Schallwellen ihrer panischen Schreie würde ihr Verstand davonfliegen. Fort aus diesem Haus, fort von diesem Ort, fort aus diesem Leben. Aber das geschah nicht. Elke erreichte den Fuß der Treppe und sah sofort die Hintertür des Gebäudes vor sich. Sie drückte die schwere, gußeiserne Klinke hinunter und schob die Tür auf. Die Scharniere bewegten sich leise und widerstandslos. Auf der Wiese hinter dem Haus hoben sich die Umrisse des von der Wirtin bereits erwähnten Toilettenhäuschens verschwommen von der düsteren Umgebung ab. Kühle Nachtluft umströmte Elkes heißes Gesicht. Sie atmete tief durch und spürte, daß sie sich schlagartig besser fühlte. Das bloße Vorhandensein dieser unverschlossenen, rückwärtigen Tür bedeutete, daß sie nicht durch die Wirtsstube gehen mußte, sondern mit wenigen Schritten ins Freie gelangen und in der Dunkelheit untertauchen konnte wie ein Fisch, der im letzten Moment aus dem Netz sprang und wieder in den Ozean fiel. Sie wußte gar nicht, wie treffend dieser Vergleich war.

     

      Elke umrundete das Gebäude mit aller Vorsicht, die sie angesichts der sich selbst befohlenen Eile aufzubieten vermochte. Der schwache Mondschein tauchte das Gras zu ihren Füßen in ein gespenstisches Licht blauer Farbe, und der Schatten ihrer eigenen Hand, mit der sie sich an den rauhen, grob behauenen Steinen der Fassade entlangtastete, schien nach ihr zu greifen und zu versuchen, sie mit seinen langen, dunklen Fingern festzuhalten. Nachdem Elke die Hausecke erreicht hatte, die an der Dorfstraße lag, glaubte sie für einen winzigen Augenblick, Schritte oder gar Stimmen gehört zu haben. Sie preßte sich fest an die Wand und schob ihren Kopf dann so weit vor, daß sie soeben den Eingang der Herberge sehen konnte. Als sie den schmalen Lichtstreifen erkannte, der durch die geöffnete Tür auf die Straße fiel und dort wie ein safrangelber Teppich lag, hielt sie unweigerlich die Luft an. Aber dann wurde die Tür langsam geschlossen, die Bahn aus Licht immer dünner, und schließlich, als wer auch immer das Haus betreten haben mochte sie wieder in ihr Schloß gedrückt hatte, lag die Straße verlassen im Dunkel vor ihr, das nur durchbrochen wurde von den fahlen Lichtern aus den Fenstern und den wenigen, vereinzelten Laternen.

      Elke hielt sich scharf am Straßenrand, als sie Wurmfleuth verließ. Sie starrte fest auf ihre Wanderschuhe; zum einen, um ja keinen falschen Tritt zu tun; zum anderen, um sich von dem abzulenken, was den Weg zurück hinter ihr lag. Dabei zählte sie ihre Schritte, immer von eins bis zehn und dann wieder von vorn. Ihr Gang war beschleunigt, ihre Arme schwangen in weit ausholenden Bewegungen hin und her, als ob sie noch ihre Nordic Walking-Stöcke in Händen hielt, die das einzige waren, was sie zurückgelassen hatte. Neben Hartmut. Als sie den Kilometerstein passierte (was sehr bald geschah und sie mit einem Gefühl der Freude erfüllte, so als ob der Stein ein alter, aus den Augen verloren gegangener Freund war), hielt sie kurz inne und drehte sich um. Sie sah nicht lange zurück, nur für eine oder zwei Sekunden. Aber die Zeitspanne war mehr als ausreichend, um dem Grauen einen Weg in den tiefsten Winkel ihrer Seele zu bahnen, wo es sich einnisten und wo es bleiben würde bis in den allerletzten Moment ihres Lebens. Elke sah, wie etwas aus der kleinen Luke im Dach der Herberge wuchs wie ein fahler, fremdartiger Pilz. Es gehörte nicht viel Kombinationsgabe dazu, um zu erkennen, daß es Hartmuts Kopf war. Angestrahlt vom Licht des Mondes hob sich sein weißes Gesicht so deutlich von den im Zwielicht verschwindenden, dunkelgrauen Dachziegeln ab, daß es beinahe selbst wie ein zweiter, kleinerer Mond wirkte. Hartmut versuchte offenbar, auf das Dach zu gelangen, aber da die Luke nur so winzig war, bekam er gerade eben seinen Kopf hindurch. Und dann, als er selbst realisierte, daß ihm dieser Weg verschlossen bleiben würde, schrie er. Er schrie vor lauter Entsetzen. Es waren keine Worte – nicht, soweit Elke es hätte verstehen können –, sondern es war ein animalisches Gebrüll, das nur einer einzigen Sache Zeugnis gab: einer unbändigen Panik, ganz hart an der Grenze des Irrsinns. Oder bereits ein Stück weiter. Das war der Augenblick, in dem Elke zu rennen begann. Sie lief den Weg in den Wald hinein, den sie gemeinsam gekommen waren. Sie lief, als sie schon nicht mehr wußte, wo sie eigentlich war; lief, als sich ihre Wadenmuskeln verkrampften und jeder Schritt so sehr schmerzte, als ob ihre Sehnen aus Stacheldraht wären, und sie lief, bis sie das Bewußtsein verlor.

      Nachdem Elke gegangen war, hatte Hartmut die Hände hinter dem Kopf verschränkt und ungläubig an die Zimmerdecke gestarrt. Von dem, was sie zu ihm gesagt hatte, war nicht das geringste bißchen in ihm haften geblieben. Seine Gedanken kreisten vielmehr um die Frage, ob er ihr nachlaufen oder ob er lieber darauf warten sollte, daß sie von selbst zurückkehrte, nachdem sie die wenig zweifelhafte Undurchführbarkeit ihres Vorhabens eingesehen hatte. Daß sie sich tatsächlich auf den Rückweg machen würde, hielt er für vollkommen absurd. Trotzdem mußte er auch diese Möglichkeit ins Auge fassen, wenn er sicher gehen wollte. Denn – soviel war klar – wenn Elke sich wirklich auf den Weg machte, mußte er hinterher. Ansonsten war sein wohldurchdachter Plan zur Beziehungsrettung bereits am allerersten Abend jämmerlich gescheitert. Hartmut stieg schwerfällig aus dem Bett, kniete sich auf den Fußboden und spähte durch den Spalt zwischen den Bohlen. Elke würde sicherlich durch die Wirtsstube ins Freie gehen. Daraufhin würde er eine, vielleicht auch eine zweite Minute abwarten, und wenn sie bis dahin nicht wieder hereingekommen sein sollte, würde er ihr kurzerhand hinterherlaufen. Da nur ein einziger Weg aus dem Dorf hinausführte, sollte es nicht schwer sein, ihr zu folgen. So lag Hartmut eine ganze Weile auf dem Fußboden und sah in die leere Stube hinab, ohne daß Elke sich dort blicken ließ. Es war ihm schon klar, daß sie ohne die Kerze etwas länger brauchen würde, bis sie die Treppe hinabgestiegen sein konnte, doch mit jeder Minute, die verstrich, wuchs in ihm die Überzeugung, daß seine Frau gar nicht nach unten gegangen war, sondern vermutlich noch immer in der Nähe der Zimmertür auf dem Flur stand. Er wollte seine Beobachtungen daher gerade einstellen, als die Tür zur Wirtsstube von außen geöffnet wurde.

      Zunächst war es nur die Wirtin, die wieder hereinkam. Hartmut bemerkte sofort die seltsame Nervosität, welche die Frau erfaßt zu haben schien. Entweder hatte etwas nicht so funktioniert, wie sie es sich gedacht hatte, oder dort unten war irgendwas im Gange, von dem er selbst keine Ahnung hatte. Die Wirtin durchmaß den Raum zur Hälfte und blieb dann stehen, um sich wieder verunsichert zum Eingang hin umzudrehen. Die Tür selbst hatte sie auf eine besorgniserregende Art weit offen gelassen, aber da das Türblatt die Sicht verdeckte, war es Hartmut nicht möglich, zu erkennen, wer oder was ihr noch nachfolgen könnte.

      Es war eine Prozession des Grotesken, die sich in quälender Langsamkeit in die Wirtsstube schob. Die drei Gestalten, die in Abständen von wenigen Metern hereinkamen, glichen einander in Aussehen und Gebaren so sehr, daß es keine Kriterien der Unterscheidung gab. Ihre Körper, die in dicke, dunkelblaue Tücher gehüllt waren, schienen so massig, daß sie in Höhe und Breite soeben durch den Türrahmen paßten. Ihre Rücken wurden von einem enormen Buckel dominiert, der gleichzeitig den eigentlichen Scheitelpunkt des Körpers darstellte. Der Kopf, der sich an irgendeiner nicht näher zu bestimmenden Stelle davor (und offensichtlich auch ein gutes Stück darunter) befinden mußte, war ebenso von den schweren Tüchern verhüllt wie alles andere an diesen massigen, unförmigen und auf bizarre Weise konturlosen Körpern. Alles, bis auf die Hände, die vorne aus der Vermummung herausragten und die sie parallel zueinander hielten, die Handrücken vollkommen gerade. Und hiervon hingen die Finger in einem perfekten rechten Winkel herab wie Tropfsteine von der Decke einer unterirdischen Höhle. In Relation zu den angesichts des massiven Körperbaus beinahe schmächtig zu nennenden Handrücken waren die Finger selbst wahre Monstrositäten, so knochig, daß ihre Gelenke die pergamentartige Haut fast bis zum Zerreißen zu spannen schienen, doch vor allem so unwirklich lang, daß die häßlichen, braunen Nägel, welche die Kuppen noch zusätzlich verunstalteten, nur einen guten halben Meter über dem Boden hingen wie eine Ansammlung verrosteter, spitzer Dolche. Hartmut wußte nicht, wer oder was diese Gestalten waren, aber allzu Gutes schien ihre Gegenwart nicht zu verheißen. Er spürte deutlich, wie etwas Kaltes sein Rückgrat hinabschlich. Es war, als ob er sich einen Eiswürfel in den Nacken gelegt hätte und nun nachvollziehen konnte, wie dieser auf der Spur seines eigenen Schmelzwassers die Wirbelsäule entlangglitt, bis er auf der Höhe des Steißbeins endgültig vergangen sein würde. Es war die Hand des Grauens, die nach ihm griff. Hartmut ahnte es, aber auf irgendeine hypnotisierende Art war er unfähig, seinen Blick von dem zu nehmen, was dort unten vor sich ging.

      Auch die Wirtin betrachtete die drei Gestalten nicht ohne erkennbare Furcht. In ihren Gesten lag zudem noch eine gehörige Portion Ehrerbietung; sie verneigte sich demütig, so tief sie eben konnte, und dabei spreizte sie die Arme wie eine Taube ihre Flügel entfaltet. In allem lag der Ausdruck der völligen Hingabe, der Selbstaufgabe, der Opferbereitschaft. Dann legte sie ihre Hände so aneinander, daß sie eine Schale formten, und die Richtung, die sie damit anzeigte, war mehr als eindeutig: es war der Weg zum Treppenhaus.

      Hartmut zwang sich, seinen Blick fortzureißen. Was er zunächst verspürte, war ein simpler Fluchtinstinkt. Er mußte hier weg. So schnell wie eben möglich. Dann, als die Grundmauern des Hauses unter der Intensität der Schritte auf der Treppe zu erzittern schienen, dämmerte ihm, daß er hier oben in der Falle saß. Seine Muskulatur erschlaffte, das Blut schien aus ihm zu weichen, und in seinen Extremitäten machte sich ein unangenehmes Kribbeln breit. Er sprang auf das Bett, klappte die Dachluke auf und versuchte, beide Arme voran, hinauszuklettern, aber das Luk war so eng, daß er selbst die Arme lediglich bis zu den Ellenbogen hinausbekam. Dann waren die schweren Schritte auf dem Flur. Es folgte ein unheilschwangerer Augenblick der Ruhe, gefolgt von einem leisen, dämonischen Kratzen an den Dielen. Dann, mit einem explosionsartigen Ruck, flog die Tür auf, und Hartmut tat das einzige, das ihm noch verblieb: er schob seinen Kopf aus der Dachluke und schrie seine unbändige Furcht in die Nacht hinaus.

      Von manchen Orten, die heute nur noch Ruinen sind, wissen Historiker und Geschichtsbücher große Dinge zu berichten. Man weiß um ihre oftmals glanzvolle Vergangenheit, und die Umstände ihres Unterganges bilden allzuoft den Boden, aus dem Legenden erwachsen.

      Weitab von diesen Trojas und Pompejis der Weltgeschichte mag es Stätten geben, an denen weniger Spektakuläres geschehen ist und deren schierer Existenz sich daher der Weg in das Bewußtsein der Menschen auch gleichsam dürftiger erschließen konnte.

      Schließlich gibt es jene Orte, die Schauplatz solch unbeschreiblicher Dinge gewesen sein müssen, daß die Einheimischen es vermeiden, über sie zu reden – oder gar nur an sie zu denken. Und obwohl sie so im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten und es schon eines Zufalls bedarf, um auf diese Orte zu stoßen, kann es durchaus geschehen, daß sich auswärtige Wanderer dorthin verirren.

      Manche verirren sich für immer.