Der Held im Erdbeerfeld

1. Kapitel

Manche Geschichten hören mit einem Happy End auf. Andere hingegen fangen mit einer mittleren Katastrophe an. Ich hasse es, wenn so etwas passiert.

Es soll Leute geben, die sich einen Teufel um all die kleinen Unwägbarkeiten und Mißstände des Lebens scheren. Die nicht darüber meckern, sondern sie pauschal abtun können. Wenn ihnen die Straßenbahn vor der Nase davonfährt, so ist das ganz einfach Pech. Wenn ihnen ein alter Schulfreund über den Weg läuft, dann ist es ein Zufall. Und sollte ihnen das Haar büschelweise ausfallen, dann lautet der Urteilsspruch auf Schicksal. Selbst dann, wenn die entstandenen Geheimratsecken so groß sind wie LKW-Parkplätze. Meinen herzlichen Glückwunsch an jeden, der das kann. Was jedoch meine Person angeht, so bin ich schon immer einer der ärgsten Meckerfritzen nördlich der Alpen gewesen. Zwar strapaziere auch ich gerne und oft die ausgelutschten Floskeln von Pech und Zufall, aber das tu ich nur dann, wenn ich keinen eindeutigen Verursacher der jeweiligen Katastrophe ausmachen kann. Und das kommt recht selten vor. Denn wenn mir der Müllmann, der beim Bäcker vor mir in der Schlange steht, das letzte Buttercroissant wegschnappt, dann ist das natürlich kein Pech oder Schicksal. Ein Zufall schon gar nicht. Es ist die Schuld des stinkenden Müllfahrers, der sich, anstatt gammelnde Abfälle wegzukarren, feist was zum Fressen besorgt. Eigentlich bin ich ganz findig darin, immer jemanden bei der Hand zu haben, den ich für kleine und große Pleiten verantwortlich machen kann. Wenn das mal nicht so ist, dann könnte es Zufall sein. Vielleicht.

An diesem Mittwochmorgen jedenfalls war es so. Daß irgend etwas in der Luft lag, hatte ich eigentlich schon gespürt, als ich mich noch behaglich schmatzend in meinem Bett umherwälzte aber trotzdem nicht pennen konnte. Mich beschäftigte nämlich der Gedanke, in welche Klamotten ich steigen sollte, sobald der Wecker meinen Puls nach vorne katapultiert hätte. Um nicht mißverstanden zu werden: eigentlich ist es mir schnurzpiepe, wie ich durch die Gegend wanke, aber es war Ende September, und das ist eine verdammt miese Zeit für Leute, die nicht über ihre Plunten nachdenken wollen. Gerade wenn man nämlich so früh aus den Federn muß, daß es draußen noch so dunkel ist wie die Achselhöhle eines Buschmannes und man somit keine reelle Chance hat, die zu erwartenden Tagestemperaturen halbwegs genau abzuschätzen, kann die Konfektionswahl eigentlich nur in die Hose gehen. Denn die Sache ist doch die: zieht man ein dünnes Polohemdchen an und dazu ein Unterhöschen aus hauchfeinster Seide, so begegnet einem auf der Straße spätestens eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang der erste Pinguin, der gegen den Schneesturm ankämpft. Hüllt man sich hingegen in lange Unterhosen, Norwegerpullover und Fäustlinge, dann wird es garantiert so bullenheiß, daß man sich vorkommt wie ein Knack-und-Back-Sonntagsbrötchen, während einem der Schweiß in erbsengroßen Tropfen von der Nasenspitze trieft. Man kann diesem Elend nur entkommen, wenn man kurzerhand so lange in der Furzfalle bleibt, bis es Mittag ist. Mindestens. Leider konnte ich mir diesen Luxus nicht leisten. Ich hatte eine Menge Programm. Einerseits mußte ich mich auf den Weg zu meinem Orthopäden machen, der sich bestimmt schon darauf freute, meinen rechten Fuß aus dem Gips zu schälen. Andererseits stand auch ein fröhlicher Besuch bei den netten Leuten von der Telekom an, die mir vor etwa vierzehn Tagen aus einer Laune heraus den Telefonanschluß gekappt hatten und es seitdem nicht fertigbrachten, mich wieder fernmündlich mit meinen Mitmenschen zu verbinden. Gerade in meinem Beruf ist das Telefon nämlich ein unverzichtbares Utensil, so nervig es ja manchmal sein kann. Denn nur für den Fall, daß ich's vergessen haben sollte, zu erwähnen: mein Name ist Paul Nußkraft. Ich bin Privatdetektiv. Immer noch.

Kurz nach zehn hatte ich meinen rechten Fuß wieder. Es war ein atemberaubender Anblick gewesen, zu sehen, wie der Arzt vorsichtig den Gipsverband aufschnitt und dann auseinanderbog. Atemberaubend mußte es übrigens für alle Anwesenden gewesen sein; ich bitte zu bedenken, daß der Mauken fast drei Wochen eingepackt gewesen war und in dieser Zeitspanne selbstverständlich keine wie auch immer geartete Waschung erfahren hatte. Er roch etwas käsig. Es ging so in Richtung Gorgonzola. Der Arzt war ein harter Hund. Er nahm es hin, ohne den Mund zu verziehen, die Nase zu rümpfen oder sich zu übergeben. Seine Gehilfin war da aus etwas weicherem Holz geschnitzt. Man konnte förmlich zusehen, wie ihr die Farbe in netten Zwiebeltränchen aus dem Gesicht lief bis es so weiß war wie ihr Kittel. Ich hatte einen Reserveschuh samt Socken bis dahin brav in einer Plastiktüte mit mir herumgeschleppt. Jetzt, da sich beides an seinem angestammten Platz befand und die Käsefabrik dezent verhüllte, sollte eigentlich alles wieder im Lack sein. Doch Pustekuchen. Ich stand an der Fußgängerampel, sah auf das rote Männchen und machte rhythmische Bewegungen mit meinen Zehen, als sich auf der anderen Straßenseite die Ereignisse plötzlich überschlugen. Eine weißhaarige Frau war gerade aus der Filiale der Sparkasse gekommen und verstaute gedankenverloren etwas in ihrer Handtasche. Hinter ihr kam ein dunkelhaariger, schmieriger Kerl heraus, der einen weiten, offenen Regenmantel trug. Er näherte sich der Frau so zügig, daß ich zuerst dachte, die beiden würden zusammengehören. In dem Moment jedoch, da die Frau an der jenseitigen Ampel stehenblieb, beschleunigte der Kerl plötzlich, riß ihr mit einer schnellen Bewegung die Tasche aus der Hand und wechselte spontan von seinem gemäßigten Trimmtrab in einen wahren Olympiasprint.

Die Frau schrie zackig auf. »Halt!« brüllte sie. »Meine Handtasche!«

Dem Klauer war das ziemlich egal. Den meisten Mitmenschen übrigens auch, wie ich mal wieder feststellen mußte. Keine Sau machte Anstalten, einzugreifen. Ein paar Passanten glotzten lieber die verzweifelte Oma an, andere gaben sich bewußt unbeteiligt.

»Ach, so'n Mist«, murmelte ich in einem Anflug von Selbstmitleid vor mich hin, bevor ich meinem wieder genesenen Füßchen einen ersten Härtetest zumutete. Ich ignorierte das rote Ampelmännchen, spurtete in selbstmörderischer Art über die zum Glück nicht allzu dicht befahrene Straße und nahm die Verfolgung auf. Irgendein Idiot hupte mich quäkend an, und ein Typ, der bislang nur reglos neben der bestohlenen Frau gestanden hatte wie eine Wachsfigur, rief plötzlich »Da läuft er!« – wobei er allerdings auf mich deutete. Ich hatte keine Zeit, für eine ordnungsgemäße Klarstellung zu sorgen. Wenn ich mich jetzt auf ein Pläuschchen einließ, hatte der Gauner die Knete nicht nur eingesackt, sondern auch bereits ausgegeben. Ich spurtete keuchend um die Ecke in eine ruhigere Seitenstraße und sah ihn gerade noch, wie er hundert Meter weiter vorne wieder einen Haken nach links schlug. Es war ziemlich aussichtslos, ihm nachzulaufen. Er war deutlich schneller als ich und hatte zudem einen beträchtlichen Vorsprung. Aus reinem Ehrgeiz hielt ich dennoch bis zur nächsten Ecke durch. Diese Ecke gehörte zu einer Parkplatzeinfahrt – und da stand der Kerl. Er hatte gar nicht bemerkt, daß ihm jemand nachgelaufen war, drehte mir frech den Rücken zu und schwenkte die Handtasche. Es sah reichlich schwul aus. In Wirklichkeit war er natürlich gerade im schönsten Plünderrausch. Ich stellte das schnelle Laufen sofort ein und verfiel in einen indianergleichen Schleichschritt. Das hatte zwei taktische Gründe. Zum einen wollte ich ihm nicht sofort wieder Gelegenheit geben, davonzuzischen und der andere, wesentlich wichtigere Grund war, daß mir bereits jetzt beide Lungenflügel über der Unterlippe hingen. Ich stand kurz davor, auf allen vieren weiterzumachen. Der Räuberbaron holte ein Portemonnaie ans Tageslicht, verstaute es in einer der weiten Taschen seines Regenmantels und warf die Handtasche dann achtlos in ein nahes Gebüsch. Ich schlenderte beiläufig an ihn heran und versuchte sogar, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, obwohl das ihm, der er ja mit dem Rücken zu mir stand, ebenso gleichgültig sein konnte. Gerade hatte ich begonnen, mir erste Gedanken über die Art der Überrumpelung zu machen, mit der ich ihn zur Strecke bringen konnte, als er plötzlich zu mir herumfuhr. Erst dachte ich, er hätte eine schwarze Skimaske über sein böses Haupt gezogen, aber dann sah ich, daß die unrasierte Visage von mehr schwarzen Bartstoppeln überzogen war als ein Schimmelkäse mit Edelpilz. Er kam wieder sofort von Null auf hundert und wollte quer über den Parkplatz zur Ausfahrt auf der gegenüberliegenden Seite. Ich selbst hatte noch Kraft für genau einen Schritt, den ich auf ihn zumachte und mich dann in seinen Regenmantel krallte, der hinter ihm aufgeflattert war wie Batmans lila Cape. Er riß und zerrte daran wie ein störrischer Gaul, ich krallte mich weiterhin fest und erwog sogar, zusätzlich hineinzubeißen. Dann hatte er sich urplötzlich herausgeschält und ich landete unsanft auf der Nase. Aus meiner Froschperspektive konnte ich ihm nur noch nachsehen, wie er auf Nimmerwiedersehen verschwand. Ich hatte keine Kraft mehr, um mich zu rühren. Meine Pumpe klopfte einen Sambarhythmus und ich japste nach Luft wie ein Goldfisch, der versehentlich aufs Parkett gesprungen war. Es lohnte sich einfach nicht, seine Haut für andere Leute zu riskieren. Am Ende war man es immer selbst, der mit der Schnauze im Dreck landete. Auch diesmal bahnte sich so etwas an.

Nach kaum fünf Minuten hatte mich die beklaute Dame eingeholt. In ihrer Begleitung hatte sie einen schmächtigen, etwa gleichaltrigen Rentner, der so breitbeinig daherschritt wie John Wayne in einer doppelten Lage Pampers Ultra. Ihre Dankbarkeit kannte keine Grenzen.

»Da liegt der Strolch«, sagte Großväterchen.

»Geben Sie mir meine Tasche wieder«, maulte seine Begleiterin und fuhrwerkte mit ihrem Gehstock vor meinem Gesicht herum. Am Ende des Stockes prangte ein bedrohlich aussehender Gummistöpsel.

Ich hatte große Mühe, die aufwallende Euphorie zu dämpfen und mir etwas Gehör zu verschaffen. »Langsam, Leute«, sagte ich also gereizt.

»Geben Sie sofort die Sachen heraus, die Sie der Dame gestohlen haben!« forderte der ritterliche Recke, unterstützt durch furchteinflößende Knüppelschwünge seiner Begleiterin.

»Nehmen Sie das Ding aus meinem Gesicht!« herrschte ich die Fechterin an, während ich mich aufzurappeln versuchte.

Die beiden Herrschaften zuckten vor dem unerwarteten Widerstand etwas zurück, aber man konnte ihnen deutlich ansehen, daß es unter der faltigen Haut brodelte.

»Sie sind ja ein richtiger Spürhund«, sagte ich zu dem tapferen Herrn. »Ich habe noch nicht einmal ansatzweise Ähnlichkeit mit dem ganzkörperbehaarten Strauchdieb, der dem Frollein die ganzen Schätze entrissen hat.« Mit seinen Schuldzuweisungen ging er tatsächlich so sensibel um wie eine Stechmücke mit der Opferwahl. Eigentlich lag mir schon lange nichts mehr daran, hier für geordnete Eigentumsverhältnisse zu sorgen, aber jetzt konnte ich den letzten Rest auch noch fertigbringen. Ich stöberte also ein wenig in dem nahem Gebüsch herum und zauberte nach kurzen Momenten die heißgeliebte Handtasche wieder ans Sonnenlicht. »Vielleicht tröstet Sie das ein wenig«, sagte ich und hielt ihr das Fundstück hin.

Die alte Dame schnappte nach dem Täschchen, öffnete es und bemerkte sofort, daß etwas darin fehlte. »Mein Portemonnaie ist weg«, stöhnte sie und machte Anstalten, bühnenreif in Ohnmacht zu sinken. Ihr Romeo mußte ihr bewahrend zur Seite springen und sich an ihrem linken Ellbogen festkrallen.

Der aufgetretene Fehlbestand überraschte mich nicht. Schließlich hatte ich gesehen, wie der Dieb die Tasche geplündert hatte. Ebenso, wohin er das Objekt seiner Begierde gesteckt hatte. Ich hob also den alten Regenmantel auf und erkannte sofort die dick ausgebeulte Seitentasche, in der sich nicht nur eine, sondern gleich drei Geldbörsen befanden.

»Da ist sie ja!«, japste Oma Duck kaum daß ich ein dunkelrotes Ledermäppchen herausgeholt hatte.

Ihr Begleiter nahm es mir flugs aus der Hand und überreichte es ihr mit einer leichten, galanten Verbeugung. Dann bemühte er sich, sie schnell von diesem Ort und vor allem von mir fortzuziehen. Während er zu mir zurückblickte schüttelte er deutlich den Kopf. Unglaublich, sollte diese Geste wohl sagen, mit welcher Dreistigkeit sich manche Leute in fremde Angelegenheiten mischen.

Ich fand das ebenso unglaublich und nahm mir fest vor, es so bald nicht wieder zu tun. »Keine Ursache!« rief ich hinter den beiden her. »Ihre Freude ist mir Belohnung genug!« Ich überlegte einen Moment, ob ich die Polizei rufen sollte, aber um ehrlich zu sein war mein Bedarf an dummen Sprüchen und womöglich falschen Beschuldigungen für heute gedeckt. Die beiden verbliebenen Geldbörsen würde ich wohl auch alleine ihre Besitzer bringen können, und was den alten Regenmantel anging, so legte ich ihn in das Gebüsch, das sein Eigentümer sich zur Aufnahme von unbrauchbarem Plunder ausgesucht hatte.

 

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