Einen Wunsch frei

Roland betrat das Café an der großen Kreuzung gerade noch rechtzeitig, um den ersten starken Regenschauern zu entgehen. Er blieb kurz im Eingangsbereich stehen, wischte mit einer schnellen Handbewegung die wenigen Wasserspritzer, die ihn trotz der großen Eile erwischt hatten, von seiner Neoprenjacke und nahm dann auf einer der roten Kunstlederbänke am Fenster Platz. Es war schon den ganzen Morgen bewölkt gewesen, aber erst im Laufe der letzten halben Stunde hatten die Wolken diesen bedrohlich dunkelgrauen Farbton angenommen, der den jetzt niedergehenden Starkregen angekündigt hatte. Natürlich, es war Mitte Februar, und Regen war zu dieser Jahreszeit ebenso natürlich wie es Hagel oder gar dichter Schneefall gewesen wäre. Aber Roland hatte einen Beruf, der ihn für alle Eskapaden des Wetters besonders anfällig machte: Roland war Fahrradkurier.

»Hallo Roland«, sagte Steffi, als sie an den Tisch kam, um seine Bestellung aufzunehmen. »Ist nicht dein Tag heute, hm?«

Roland rieb sich müde mit beiden Händen über die Augen und sah dann durch die gespreizten Finger zu ihr auf. Er kannte Steffi ganz gut. Hin und wieder kam er nach Feierabend in dieses Café, manchmal allein, manchmal mit Freunden, und dann saß er da, trank heiße Schokolade und sah auf die Lichter der Stadt hinaus. Abends war das Pik Solo immer gut besucht, die Atmosphäre war sehr angenehm, die Getränkepreise erträglich und die Musik nicht zu laut, so daß man sich noch unterhalten konnte, ohne brüllen zu müssen. Um die Mittagszeit herum war es für gewöhnlich leer, wie auch jetzt Roland der einzige Gast war. Das Abendpublikum befand sich augenblicklich noch hinter Schreibtischen, Drehbänken oder in Hörsälen, und die älteren Damen, die man häufig in anderen Cafés sah (und die, als ob sie sich darauf verständigt hätten, beim Kaffeetrinken grundsätzlich einen Hut trugen), machten einen Bogen um das Pik, weil es ihnen offenkundig zu modern und ungemütlich erschien. Tatsächlich gab es eine Menge Chrom und Neon, und an dem langen Tresen, der sich quer durch den Laden zog, stand ein Dutzend einbeiniger Barhocker, allesamt mit rotem Kunstledersitz, die am Boden festgeschraubt waren und die aussahen wie eine Reihe überdimensionaler Fliegenpilze.

»Machst du mir ’ne Schokolade?« fragte Roland und bestaunte die blonde Dauerwelle des Mädchens. Unwillkürlich fragte er sich, wie sie wohl aussehen würde, nachdem sie bei dem Regen auf dem Fahrrad bis hoch nach Blankenese gefahren wäre. Vermutlich würden ihre Locken dann wie gekochte Spaghetti an ihrem Kopf kleben, der rote Lippenstift verschmiert sein und der Lidschatten von ihren Augen über die Wangen fließen wie blauschwarze Tränen. Es machte schon einen Unterschied aus, ob man den Arbeitstag in einem hübschen Lokal bei angenehmer Musik verbrachte oder ob man auf einem Drahtesel bei Wind und Wetter durch den dichten Hamburger Verkehr schoß, bremsenden Lieferwagen und einparkenden Hausfrauen ausweichend, immer auf der Hut vor plötzlich hakenschlagenden Passanten und aufschwingenden Autotüren. Andererseits würde Steffi auch noch heute abend unter den summenden Neonschildern stehen, Kekse an Kaffeetassen legen und Eiswürfel in Colagläser werfen, während er schon längst auf dem Sofa lag, sich die Waden mit Sportgel einrieb und im Fernsehen das Länderspiel verfolgte. So gesehen relativierte sich die Sache also wieder.

»Schon unterwegs«, sagte Steffi und ging hinter ihren Tresen zurück.

Roland stützte sein Gesicht mit der Hand ab und sah mißmutig auf die Straße hinaus, an deren Rändern jetzt sogar allmählich die Laternen angingen. Zum anhaltenden Regen gesellten sich nun auch immer häufiger starke Windböen, die das Wasser in breiten Bahnen über den Asphalt trieben. Es sah aus, als bräche es sich am Bug eines unsichtbaren Schiffes, das über die Straße fuhr.

In diesem Augenblick bemerkte Roland die beiden Leute. Sie standen etwas weiter links, preßten ihre Rücken an das Fensterglas und bemühten sich, von der winzigen Markise des Cafés so viel Schutz wie eben möglich zu erhalten. Sie waren scheinbar von dem Unwetter ebenso überrascht worden wie er. Einer der beiden trug einen sandfarbenen Trenchcoat und einen ziemlich großen Hut; die Person daneben hatte sich bereits die Kapuze ihres schmutziggrauen Parkas über den Kopf gezogen. Es schien, als rückten die beiden instinktiv immer näher zusammen, so wie es verschreckte Kaninchen tun. Der verzweifelte Versuch der beiden Passanten, den herabprasselnden Wassermassen zu entgehen, war nach Rolands Dafürhalten freilich vom ersten Moment an zum Scheitern verurteilt gewesen. Der Wind peitschte den Regen mit einer solchen Vehemenz, daß er sogar schon an die Fensterscheiben trommelte. Selbst wenn die mickrige Markise ihnen genügend Schutz von oben bieten sollte – und Roland bezweifelte das –, so bekamen sie mehr als genug von vorne ab. Spätestens in fünf Minuten würden sie dastehen wie zwei Pudel, die man in eine Badewanne geworfen hatte.

Als wäre er zeitgleich zu demselben Schluß gekommen, drehte sich der Mann mit dem Hut plötzlich um und musterte mit forschendem Blick das Café. Es war geöffnet, es war leer, und vor allem war es trocken. Und so tat er das einzig Richtige: er faßte seine Begleitung am Arm und zog sie mit vorsichtigen Schritten zur Eingangstür. Als sie hereinkamen, nahm Roland kurz den Blick von dem Unwetter und sah zu ihnen hinüber. Es waren zwei alte Leute. Ein großer, hagerer Mann mit einem ausgemergelten Gesicht und eine etwas kleinere Frau, womöglich ebenso alt, aber durch eine deutlich straffere Gesichtshaut erheblich jünger als ihr Begleiter wirkend. Die Frau trug eine dunkle Sonnenbrille. Roland wunderte sich nur einen kurzen Augenblick darüber. Dann sah er die gelbe Armbinde mit den drei markanten Punkten, welche die Frau um den Oberarm trug.

Der Mann nahm den Hut ab und schüttelte ihn ein wenig. »Können wir uns hier einen Moment unterstellen?« fragte er. Sein Haar war silbergrau und ebenso spärlich wie die Bartstoppeln gleicher Farbe, die sein Kinn zierten.

»Natürlich«, antwortete Steffi freundlich. »Sie dürfen sich auch gerne hinsetzen. Oder etwas bestellen, wenn Sie möchten.« Sie sagte es einladend und unverbindlich. Steffi war nicht der Mensch, der einen überaus verständlichen Wunsch nach einer Notwendigkeit starrköpfig mit einer Verpflichtung verband. Niemand mußte etwas kaufen, bloß um auf die Toilette zu dürfen. Und auch die beiden alten Leute konnten eine Tasse Kaffee trinken, wenn sie wollten. Aber wenn nicht, würde Steffi sie trotzdem nicht wieder zurück auf die Straße schicken.

Der alte Mann führte die Frau mit kleinen Schritten an Rolands Tisch vorbei zu einem der vielen freien Plätze. Die Gänge waren zu schmal, als daß sie nebeneinander hätten gehen können, und so dirigierte er sie, indem er sie am Ellbogen festhielt und, leise Anweisungen murmelnd, vor sich herschob. Schließlich setzten sie sich auf die Bänke, die sich genau in Rolands Rücken befanden, wobei sie ihre regennasse Kleidung anbehielten. Offenbar rechneten sie damit, daß sich das Wetter schon sehr bald wieder ändern würde und ihr Aufenthalt nur von kurzer Dauer sei.

Steffi brachte Roland die bestellte heiße Schokolade, stellte die Tasse vor ihm ab und trat dann an den Tisch der beiden Neuankömmlinge heran. »Möchten Sie etwas trinken?« fragte sie.

»Im Augenblick nicht«, antwortete der alte Mann. »Ist das in Ordnung? Wir möchten eigentlich nur warten, bis es nicht mehr ganz so schlimm ist.«

»Ja«, erwiderte Steffi. »Kein Problem.« Damit war der Fall für sie erledigt. Sie ging ein paar Schritte zurück und setzte sich dann zu Roland an den Tisch, um ihm dabei zuzusehen, wie er sein Stück Spritzgebäck in den Kakao tunkte und von der Betrachtung der dunkelgrauen Szenerie da draußen immer müder wurde.

Ein Blitz fuhr vom Himmel herab. Für einen kurzen Augenblick lag die Straße hell erleuchtet wie an einem wolkenlosen Sommertag. Dann, nachdem ein paar Sekunden vergangen und das bedrohliche Zwielicht zurückgekehrt war, folgte der Donner, und er war so heftig, daß die Scheiben des Cafés vibrierten.

»Super«, sagte Roland sarkastisch.

»Hast du noch viel?« fragte Steffi und deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf den schwarzen Rucksack, der neben ihm auf der Bank lag.

»Hätte eigentlich schon Feierabend«, antwortete Roland und sah sie dabei traurig an. »Aber dann kam noch ’ne Abholung von den Werbeheinis hier oben.« Er deutete gegen die Decke des Cafés, hinter der sich noch drei Etagen Bürofläche verbargen – und zwar mit dem Mittelfinger, was seinen Unmut über diese Tatsache noch zusätzlich unterstrich.

Steffi kannte die Leute von der Werbeagentur im zweiten Stock. Nicht persönlich, aber hin und wieder kamen drei oder vier von ihnen am Nachmittag herunter in das Pik, stellten sich an das hinterste Ende des Tresens und tranken Prosecco aus langen Glaskelchen. Junge Burschen in teuren Maßanzügen, die wichtigtuerisch über ihren neuen Porsche oder über ihr italienisches Schuhwerk schwätzten, und langbeinige, arrogante Barbiepüppchen, die ihnen an den Lippen hingen. Sie mochte sie nicht sonderlich, aber im Laufe der Jahre hatte Steffi es sich abgewöhnt, ein Werturteil über jeden einzelnen ihrer Kunden zu fällen. Sie nahm Bestellungen auf, brachte das Gewünschte und am Ende kassierte sie. Punkt. Was das Erscheinungsbild, das Auftreten oder die Freundlichkeit der Menschen anbetraf – nun, mittlerweile war das für sie zweitrangig geworden. Sie grämte sich nicht mehr, wenn sie zwei Cent Trinkgeld bekam, sich dafür artig bedanken mußte und zudem noch den Rat bekam, nicht alles auf einmal auszugeben. Und es ärgerte sie auch schon lange nicht mehr, wenn Gäste, wie zum Beispiel die wichtigen Damen von der Werbeagentur, sich über ihren gestreiften Kittel amüsierten oder über die brave Schürze, die sie hier tragen mußte. Dennoch gab es Leute, über deren Besuch sie sich freute und mit denen sie sich, sofern es die Zeit zuließ, auch gerne schon einmal ein wenig unterhielt. Leute wie Roland, zum Beispiel.

»Wo mußt du denn noch hin?« wollte sie wissen.

Roland schloß ungläubig die Augen und atmete kurz und stoßartig durch die Nase aus. »Nach Blankenese«, sagte er. Dann schob er den linken Ärmel seiner Jacke etwas hoch und sah auf die Uhr. »Muß um drei da sein. Spätestens. Ich brauch’ 20 Minuten, bei dem Scheißwetter vielleicht sogar ’ne halbe Stunde. Das heißt, ich hab’ höchstens noch 40 Minuten, in denen ich auf besseres Wetter hoffen kann. Dann muß ich raus. So oder so«, rechnete er vor.

»Muß ja gleich mal aufhören«, sagte Steffi und versuchte, dabei möglichst zuversichtlich auszusehen. »So viel Wasser gibt’s doch gar nicht.«

Roland nickte, aber es war weniger eine Zustimmung als vielmehr ein Ich hoffe es auch-Nicken. »Es gibt Tage«, sagte er deprimiert, »da wünschte ich mir, ’nen anderen Job zu haben. Heute ist so einer.«

»Komm schon«, entgegnete Steffi aufmunternd, um ihn wieder etwas aufzurichten. »Man könnte es wirklich schlimmer getroffen haben. Du hast niemanden, der dir bei der Arbeit über die Schulter sieht, ein geregeltes Einkommen, dreißig Tage Urlaub ...«

»Siebenundzwanzig«, korrigierte Roland.

»Siebenundzwanzig«, wiederholte Steffi gedehnt. »Dazu bist du krankenversichert, rentenversichert ...«

»Schon gut, schon gut«, wiegelte Roland jetzt leicht genervt ab. »Auch gegen Unfall und Arbeitslosigkeit. Aber was nützt es, wenn ich meine Touren nur mit ’nem Schlauchboot machen kann?«

Steffi beschloß, vorerst keine weiteren Aufmunterungsversuche zu unternehmen. Sie kannte Roland. Wenn er diese Phasen hatte, konnte nichts und niemand ihn aus dem Loch herausholen, in das er sich gestürzt hatte. Das konnte nur er selbst. Und er würde es auch tun. Es war nur eine Frage der Zeit. Und eine Frage von Regen oder Sonnenschein. Als die Eingangstür aufging und eine junge Frau das Lokal betrat, kam Steffi das eigentlich ganz recht. »Kopf hoch«, sagte sie noch, nur um überhaupt irgend etwas zu sagen und Roland nicht ganz wortlos alleinzulassen. Dann ging sie zu der Frau hinüber, die im hinteren Teil des Cafés Platz genommen hatte.

»Ich wünschte, es würde endlich aufhören, zu regnen«, murmelte Roland und sah wieder grimmig hinaus.

»Das war jetzt schon der zweite Wunsch«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm.

Roland drehte sich behäbig um und sah über die Schulter der rücklings zu ihm sitzenden blinden Frau in das freundlich lächelnde Gesicht des alten Mannes. »Sagten Sie etwas?« fragte er leicht gereizt. Er hatte den Mann schon ganz gut verstanden, aber wenn er etwas noch weniger leiden konnte als knöcheltief im Unglück zu stecken, dann, wenn sich andere darüber auch noch lustig machen wollten.

»Ich finde, das Fräulein hatte ganz recht«, sagte der Alte. Seine Stimme klang etwas heiser und forsch, aber keinesfalls belehrend. »Man muß auch zufrieden sein können mit dem, was man hat.«

Roland wandte sich wieder ab und sah in seine mittlerweile leere Tasse hinein, an deren Innenseite der getrocknete Kakao einen gleichmäßigen, braunen Ring gezeichnet hatte. »So. Finden Sie«, sagte er tonlos. Es war eine gelangweilte Feststellung, keine Frage. Es interessierte ihn nicht, was der alte Mann über seine Probleme dachte. Dazu kam, daß er schon keine Lust gehabt hatte, mit Steffi über das Thema zu diskutieren. Mit einem Wildfremden würde er es garantiert nicht tun. Er begann, im Geiste den Weg abzufahren, der ihm als der Schnellste erschien, und für einen kurzen – einen sehr kurzen – Moment kam er auf die bizarre Idee, ein Taxi zu rufen und sich nach Blankenese chauffieren zu lassen. Toll, dachte er mürrisch. Der Fahrradkurier, der mit dem Taxi kam. Ha-Ha.

Unterdessen hatte sich der alte Mann erhoben und war bis an Rolands Tisch herangekommen. Roland bemerkte ihn erst richtig, als er sich gerade umständlich auf den Platz ihm gegenüber schob. Genau dorthin, wo eben noch Steffi gesessen hatte.

»Gestatten Sie, daß ich mich einen Moment zu Ihnen setze«, sagte der Mann hastig, als er Rolands nicht sehr erfreuten Blick auffing. »Ich finde nämlich, daß Sie sehr verschwenderisch mit Ihren Wünschen umgehen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Was würden Sie sich denn wirklich wünschen, vorausgesetzt, daß Sie sich etwas wünschen dürften

»Einen Einzeltisch«, antwortete Roland desinteressiert und hatte nun wirklich einen Wunsch. Nämlich den, der aufgezwungenen Unterhaltung baldmöglichst wieder entrinnen zu können.

»Das ist wahre Bescheidenheit«, kommentierte der alte Mann, dem Rolands Sarkasmus keineswegs entgangen war, der ihn aber dennoch unentwegt lächelnd, ja beinahe liebevoll ansah.

»Entschuldigen Sie«, sagte Roland und versuchte nun auch seinerseits, sich zumindest kurzzeitig zu einem freundlichen Gesicht und künstlich aufgesetzter Höflichkeit zu zwingen. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Er empfand sein Gegenüber als ausgesprochen lästig und aufdringlich.

»Nein«, gab der Mann unumwunden zu. »Aber vielleicht dürfen wir Ihnen helfen.«

»Wie glauben Sie denn, das anstellen zu können?« brummte Roland und ärgerte sich im stillen, daß er sich tatsächlich auf ein Gespräch eingelassen hatte, auch wenn sein Beitrag dazu nur aus knappen, zynischen Kommentaren bestand.

»Wir verkaufen Wünsche«, erklärte der Alte lapidar.

»Wünsche habe ich selber genug«, antwortete Roland. »Da muß ich mir keinen mehr dazukaufen.«

»Womöglich hätten Sie gerne einen weniger?« fragte der Mann, bevor er nach einer kleinen Pause ergänzte: »Außerdem war keine Rede davon, daß Sie etwas kaufen sollen. Der erste Wunsch ist frei. Erst der zweite kostet.«

Oh Mann, dachte Roland. Das war ja wirklich mal eine ganz neue Masche. Sie haben einen Wunsch? Ein neues Auto vielleicht? Oder ein Haus im Grünen? Kein Problem, hier kommt Doktor Wünschdirwas. Drei Wünsche fünf Euro. Oder nehmen Sie gleich den praktischen Zehnerpack für die ganze Familie. Warum wünschte er sich nicht selbst, daß er ein paar Jahre jünger wäre? Oder daß seine Begleiterin wieder sehen konnte, wenn er schon glaubte, die Möglichkeit zu haben? Das war fast so wie mit dem abgerissenen Losverkäufer auf dem Rummelplatz, der den Menschen den großen Geldgewinn versprach, aber dabei so aussah, als ob er seine Garderobe aus dem Altkleidersack fischte. Roland grunzte verächtlich. Für einen Augenblick dachte er daran, den alten Mann einfach zu ignorieren, um ihm sein Desinteresse deutlich zu machen. Dann jedoch entschied er sich dafür, ihm geradeheraus seine Meinung zu sagen. Manche Leute verstanden es einfach nicht anders. »Es läuft nicht so gut, Ihr kleines Geschäft, nicht wahr?« fragte er also, indem er sich seinem aufgezwungenen Gesprächspartner demonstrativ zuwandte und ihn durch leicht verengte Augen hindurch fixierte. »Ich meine, wer um alles in der Welt bezahlt Ihnen ... was sagten Sie noch gleich, was Ihre nette Dienstleistung kostet?«

»Der erste Wunsch ist frei«, wiederholte der Alte mit gleichbleibend ruhiger Stimme. »Für den zweiten nehmen wir hundert Euro.«

»Hundert Euro!« rief Roland, dessen Augen schlagartig wieder kugelrund geworden waren. »Niemand bezahlt Ihnen hundert Euro, nur um sich was bei Ihnen wünschen zu dürfen. Vor allem dann nicht, wenn Sie so dumm sind und zuvor gratis unter Beweis stellen, daß Ihre werte Kundschaft sich falsche Hoffnungen macht.« Rolands Stimme hatte eine aggressive Färbung bekommen, obwohl er gleichzeitig spürte, wie ein Gefühl ungewollter Heiterkeit sich seiner ermächtigte.

Der alte Mann bemerkte es nicht. Oder er wollte es nicht bemerken. Auf jeden Fall bewahrte er sein freundliches Lächeln. »Es ist ganz normal, daß Sie Zweifel haben«, sagte er. »Die Menschen sind mißtrauisch. Das liegt in ihrer Natur. Daher verschenken wir den ersten Wunsch auch, damit die Leute sich davon überzeugen können, einen echten Gegenwert für ihr Geld zu erhalten.«

»Hören Sie, Meister«, erwiderte Roland mit einer Spur allzu deutlich aufgesetzter Freundlichkeit. »Wahrscheinlich sind Sie in Wirklichkeit ein ganz netter Kerl. Daher will ich Ihnen sagen, was an Ihrer Geschichte nicht stimmt: wer sich etwas wünschen darf, was dann tatsächlich in Erfüllung geht, der braucht keinen zweiten Wunsch, oder?«

»Die Menschen haben immer einen zweiten Wunsch«, sagte der Alte. »Mindestens.«

»Ich wollte auch nur sagen, daß Ihnen niemand einen zweiten Wunsch abkaufen muß, sofern er sich zuvor das Richtige gewünscht hat.«

»Und was meinen Sie, was das Richtige ist?« wollte der Mann wissen.

»Geld«, erwiderte Roland knapp. »Wer ’nen Haufen Geld hat, kann sich seine Wünsche selber erfüllen. Schon mal daran gedacht? Wenn ich ’nen Koffer voller Moneten hätte, wäre mir sogar dieses Scheißwetter egal. Ich würde meinen Job kündigen, mit dem Taxi nach Hause fahren und noch heute abend in den Süden fliegen. Klar, wenn ich ’nen Wunsch frei hätte, ich würde mir nichts anderes als eine ordentliche Menge Geld wünschen.«

»Aber Sie haben doch einen Wunsch frei«, sagte sein Gegenüber und begann, noch eine Spur breiter zu lächeln. »Deshalb habe ich mich doch zu Ihnen gesetzt. Wenn Sie möchten, dürfen Sie sich etwas wünschen. Und Sie können auch gerne einen zweiten Wunsch dazukaufen.«

Roland schüttelte langsam seinen Kopf und sah wieder hinaus nach draußen. Der Wolkenbruch hatte ein wenig an Intensität verloren, und hier und da riß die finstere, bauschige Wolkendecke sogar ein Stück weit auf, um die Strahlen einer schwachen Wintersonne hindurchzulassen. Sie tauchte die Straße in ein merkwürdiges, unheilvolles Zwielicht, aber es schien Roland ein passender Moment, um die Gunst des Augenblicks zu nutzen und sich wieder auf den Weg zu machen.

»Na gut«, sagte er entschieden, um endgültig einen Schlußstrich unter das unliebsame Gespräch zu ziehen. »Ich wünsche mir also Geld. Eine hübsche Summe, vielleicht fünf oder zehn ... ach was, eine einzige Million tut’s auch schon, man soll nicht unverschämt werden. Eine Million Euro.« Roland schien einen Moment träumerisch seiner Vorstellung nachzuhängen, dann holte ihn die Realität wieder ein. Er drehte seinen Kopf über die Schulter und rief: »Steffi! Ich muß weg!«

»Komme schon«, antwortete Steffi von irgendwoher.

Als Roland sich wieder dem alten Mann zuwandte, sah er, daß sich inzwischen auch die blinde Frau zu ihm umgedreht hatte. Ihr vormals gütiges und freundliches Gesicht hatte sich zu einer ernsten Miene verzogen, und auch das ständige Lächeln ihres Begleiters war verschwunden. Gemeinsam hielten sie jeweils mit zwei Fingern einen kleinen Gegenstand fest, den der Mann mit der gekrümmten anderen Hand abschirmte wie ein brennendes Streichholz vor dem Wind. Die beiden flüsterten unverständliche Worte, und es war beinahe so, als ob sie diese nicht aneinander, sondern vielmehr an das ominöse kleine Ding richteten. Schließlich hellte sich der Gesichtsausdruck der Frau wieder auf. Auch der alte Mann gewann die gewohnte Freundlichkeit zurück, während er Roland mit einer ausladenden Handbewegung den merkwürdigen Gegenstand herüberreichte. Das Ding sah aus wie eine dieser Papierblumen, die es an den Schießbuden der Jahrmärkte zu treffen galt: ein dünner, grüner Blumendraht, der im oberen Drittel mit Papier umwickelt war und das letztlich drei oder vier häßliche, rechteckige Blätter daran bildete.

»Was soll das sein?« fragte Roland skeptisch.

»Das ist Ihr Wunsch«, erklärte der alte Mann lapidar. »Tragen Sie ihn bei sich, damit er in Erfüllung gehen kann.«

Roland betrachtete die Papierblume und zwirbelte dabei den Draht zwischen Daumen und Zeigefinger, so daß sich die unförmigen Blütenblätter drehten wie der Rotor eines winzigen Hubschraubers. Er überlegte, ob er das Ding tatsächlich einstecken oder lieber gleich hier an Ort und Stelle im Aschenbecher vergessen sollte.

In diesem Moment trat Steffi an den Tisch heran. In der Hand hielt sie eine große Geldbörse. »Willst du dein Glück versuchen?« fragte sie.

»Ja«, entgegnete Roland. »Jetzt oder nie.«

Steffi sah kurz durch das große Fenster. Dann nickte sie zustimmend. »Zwei zwanzig. Wie immer«, sagte sie.

Roland zückte sein Portemonnaie und ertappte sich dabei, wie er tatsächlich einen gespannten Blick in das Scheinfach warf. Aber es war so leer, wie es das schon den ganzen Tag gewesen war. Dann suchte er drei Euromünzen heraus und legte sie auf den Tisch. »Paßt schon«, meinte er und rang sich ein klägliches Lächeln ab. Dann, als ob ihm die Gelegenheit günstig erschien, hielt er dem Mann auf der anderen Tischseite seine geöffnete Geldbörse hin, wobei er besonders danach trachtete, ihm Einblick in das leere Scheinfach zu gewähren. »Hat nicht geklappt, sehen Sie?« sagte er zynisch. »Offenbar werde ich Ihr verlockendes Angebot ausschlagen müssen und mir keinen zweiten Wunsch gönnen.« Roland warf die Papierblume achtlos in sein Portemonnaie, stand auf, zog den Reißverschluß seiner Jacke bis zur Kinnspitze hoch und schwang sich dann den Rucksack über die Schulter.

»Möchten Sie unsere Karte? Für den Fall, daß Sie Bedarf haben?« fragte der alte Mann.

»Nein danke«, knurrte Roland. »Bedaure zutiefst. Ihr Produkt ist mir noch nicht ganz, wie soll ich sagen, noch nicht ganz ausgereift. Trotzdem viel Glück beim nächsten Dummen.« Er stapfte wortlos an Steffi vorbei, die ihm irritiert nachsah.

»Kommst du heute abend noch mal rein?« wollte sie wissen.

»Mal sehen«, antwortete Roland, bevor er durch die Tür verschwand.

Steffi steckte die Münzen ein und sah dann etwas verärgert zu dem alten Mann hinüber. Sie wußte, daß er auf irgendeine Weise zu Rolands Mißstimmung beigetragen haben mußte, wenngleich sie auch keine Ahnung hatte, über was die beiden eigentlich geredet hatten.

Der Mann hob den Kopf und begegnete ihrem Blick. »Wir gehen dann auch mal«, sagte er.

Steffi nickte wortlos und sah ihm dabei zu, wie er sich umständlich erhob, seine Begleitung in den Gang hinein dirigierte und diese dann wieder an Tischen und Stühlen vorbei in Richtung Ausgang geleitete, so wie er es schon beim Hereinkommen getan hatte.

An der Tür blieben die beiden einen Moment stehen. Der Mann nickte Steffi freundlich zu, dann hob er seinen Hut ein Stückchen und sagte: »Nochmals danke, daß wir uns unterstellen durften.«

»Schon gut«, antwortete Steffi. Dann sah sie ihnen nach, wie sie an den großen Fensterflächen entlang gingen, und gleichzeitig erkannte sie Roland, der sein Fahrrad mittlerweile aufgeschlossen hatte und zügig in entgegengesetzter Richtung davonfuhr. Und dann ging sie hinter ihre Theke zurück.

Der Lastwagen war ein großer Schwertransporter gewesen, der einen imposanten Stapel rostbrauner Stahlrohre in Richtung Hafen transportierte. Roland hatte ihn gesehen, lange bevor er an die Kreuzung kam. Er hatte sich noch gewundert, weshalb der Fahrer ausgerechnet den Weg durch diese Straße nahm, die aufgrund der in zweiter Reihe parkenden Autos regelmäßig künstlich verengt war und die sogar die örtlichen Verkehrsbetriebe nicht mit den langen Gelenkbussen befuhren. Der Fahrer hatte sich vertan, soviel schien sicher zu sein. Und er wußte, daß er hier falsch war. Der Laster ordnete sich an der großen Kreuzung auf der Spur für Linksabbieger ein, scherte dann etwas aus und umrundete die kleine Verkehrsinsel zwischen den Fahrspuren, um die Fahrt in Gegenrichtung fortsetzen zu können.

Roland war von seinem Fahrrad gestiegen und hatte es bis zur Fußgängerampel geschoben. Er konnte sich gut vorstellen, welche Mühen der Fahrer hatte, das lange Fahrzeug schadlos zu rangieren. Was dieser jetzt nicht gebrauchen konnte, waren Fußgänger oder Radfahrer, die ihm in den toten Winkel gerieten. Roland ließ eine Grünphase ungenutzt passieren und wartete geduldig, bis der Lastwagen so gut wie um die Verkehrsinsel herum war. Die Zugmaschine befand sich bereits wieder in Geradeausfahrt, und der Hänger schwenkte gerade die letzten Meter ein. Als die Fußgängerampel wieder Grün zeigte, schwang sich Roland in den Sattel und bemühte sich, die vertane Zeit möglichst einzuholen. Er hatte die andere Straßenseite beinahe erreicht, als das Unglück geschah.

Roland hörte das schwere Ächzen der hydraulischen Bremsen, sah, wie die riesigen Zwillingsreifen des Aufliegers stillstanden, aber der Hänger dennoch seine Seitwärtsbewegung fortsetzte. Die Räder glitten über den nassen Asphalt, unter ihnen trat das Regenwasser in großen Blasen hervor, ganz so, als ob es kochen würde. Roland hörte den Motor der Zugmaschine aufbrüllen, eine dunkle Abgaswolke, die nach Diesel stank, legte sich über die Kreuzung wie ein dunkler Vorhang, und dann spürte Roland nur noch, wie ihn etwas an der Hüfte traf, ihn mit roher Gewalt aus dem Sattel riß und zu Boden schleuderte. Er schlug mit dem Kopf hart auf dem Bordstein auf, sein Rucksack zerriß und für eine Zehntelsekunde machte Roland sich Gedanken um das Päckchen der Werbeagentur, das er zu transportieren hatte und das nun aufweichen würde, bis das Regenwasser es in einen Gully spülte. Dann, nachdem diese Zehntelsekunde vergangen war, zogen ihn die Räder des Aufliegers fort.

Zumindest einen Teil von ihm.

»Glaubst du«, fragte die blinde Frau, »daß er das viele Geld bekommt, das er sich so sehr wünscht?«

Der alte Mann lächelte vergnügt und tätschelte liebevoll den Arm seiner Gefährtin, mit dem sie sich bei ihm untergehakt hatte. »Aber ja«, sagte er glücklich. »Er ist Fahrradkurier, weißt du? Er transportiert Sachen auf dem Fahrrad durch die Stadt. Das ist nicht ungefährlich, und daher ist er entsprechend versichert. Ich habe selbst gehört, wie er es der Bedienung erzählt hat. Stell dir nur vor, er verlöre seine Beine, vielleicht einen Arm dazu, ist womöglich sogar den Rest seines Lebens gelähmt, dann kämen da sehr schnell sehr große Versicherungssummen zusammen.«

»Wie schön«, sagte die Frau. »So ein netter junger Mann. Nur irgendwie tragisch, daß er keinen zweiten Wunsch wollte.«