Graue Kreaturen

Als es anfing, war das erste, was Kröger davon wahrnahm, das Geräusch eines umfallenden Gartenstuhls. Er wandte den Kopf zum Fenster und sah auf die sich heftig im Wind wiegenden Wipfel der beiden Pappeln, die im Garten der Schuhmanns standen. Sein Gehirn erkannte in Sekundenbruchteilen den typischen Laut des niederstürzenden Plastikmöbels und kombinierte ihn mit dem auflebenden Wind als Verursacher. Damit war das Störgeräusch hinlänglich erklärt und von Kröger schon im nächsten Moment wieder vergessen. Er hatte es auch völlig richtig gedeutet. Bis auf die Ursache.

      Gernot Kröger bewohnte mit seiner Frau ein kleines Einfamilienhaus in Lichtenwald, einem verschlafenen Örtchen kurz hinter Stuttgart, das auf einen Durchreisenden ebenso langweilig und gewöhnlich wirken mußte wie die Menschen, die hier lebten. Er war Lehrer an der hiesigen Grundschule, während Sabine Tierärztin war und ein paar Straßen weiter eine den örtlichen Umständen entsprechend gut frequentierte Praxis unterhielt. Somit gehörten er und seine Frau Berufsgruppen an, die zwar hoch im öffentlichen Ansehen standen, jedoch viel zu häufig mißinterpretiert wurden. Während er selbst sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt hatte, daß die Leute ihn als Lehrer für allwissend hielten (und geradezu entsetzt waren, wenn sich herausstellte, daß er nicht den geringsten Schimmer hatte, wer der Erfinder des Mikrowellengerätes war oder an welchem Wochentag der Erste Weltkrieg begonnen hatte), reagierte Sabine bis heute noch mit großem Zynismus auf Anfragen ihrer Mitmenschen, die humanmedizinische Diagnosen gestellt bekommen wollten. Nachdem sie müde geworden war, immer und immer wieder klarzustellen, daß sie Veterinärin sei (inzwischen sagte auch sie Tierärztin. Das war den meisten verständlicher), war sie in letzter Zeit dazu übergegangen, nervtötenden Fragestellern eine Impfung gegen Staupe anzubieten. Nach vorheriger Entwurmung selbstverständlich. Der größte Irrglaube, der herrschte, war der, daß ein Lehrer und eine Ärztin zwangsläufig reich sein müßten, auch wenn es sich nur um einen Grundschullehrer und eine Tierärztin handelte. Und dem war eindeutig nicht so. Das kleine Haus am Wendehammer einer ruhigen Sackgasse, das sie vor mittlerweile fünfzehn Jahren bezogen hatten, war noch immer bei weitem nicht abbezahlt; Kröger gab Nachhilfe in Deutsch und Mathematik bis etwa zur siebten Jahrgangsstufe, und in den Ferien dozierte er ab und an in Stuttgart an der Volkshochschule. Sie kamen gut über die Runden, aber es war nicht so, daß sie in Wohlstand und Überfluß lebten. Familie Schuhmann, die im Haus nebenan wohnte (und die ihre einzigen direkten Nachbarn waren), mochte da zumindest von der rein materiellen Seite her durchaus besser gestellt sein. Bernd Schuhmann stand, soviel Kröger wußte, bei Mercedes am Fließband und montierte mit den immer gleichen Handgriffen vorgefertigte Karosserieteile auf halbfertige Autos. Vermutlich war das nicht annähernd so abwechslungsreich wie das, was er oder Sabine taten, aber es schien einträglich genug zu sein, daß Schuhmann damit Frau und zwei Kinder ernähren konnte. Viel zu schaffen hatten sie mit den Schuhmanns allerdings nie gehabt. Sie grüßten sich gegenseitig wenn sie sich sahen; ein-, zweimal im Jahr klingelte Frau Schuhmann an und fragte, ob sie Sabine eine Zitrone, ein Ei oder irgendwelche anderen Backzutaten abkaufen könne (Sabine schenkte sie ihr dann immer), und im letzten Sommer hatte Kröger Herrn Schuhmann den Rasenmäher geliehen, nachdem ihr Nachbar mit dem seinen über einen kopfgroßen Findling gefahren war. Darüber hinaus waren ihre Ansichten von einer befriedigenden Lebensgestaltung so unterschiedlich wie sie nur sein konnten. Gernot Kröger interessierte sich für Kunst und klassische Musik, Sabine Kröger bildete sich regelmäßig fort, und Familie Schuhmann feierte gerne wilde Parties. Das war weiter voneinander entfernt als die Erde vom Mond. Und daher beschränkten sich ihre gegenseitigen sozialen Kontakte auch auf ein Hallo am Gartenzaun.

      An diesem Samstagnachmittag saß Gernot Kröger mit einem großen Haufen Kissen im Rücken auf dem Bett, aß Mikrowellenpopcorn aus einer Plastikschüssel, trank zuckersüßen Hagebuttentee und sah sich alte Videocassetten mit Folgen von Raumschiff Enterprise an. Sabine war am Vormittag zu einem Kongreß nach Baden-Baden aufgebrochen und würde erst am Sonntag wieder zurück sein. Kröger hatte ursprünglich geplant gehabt, die durch die Abwesenheit seiner Frau entstehende Leere damit zu füllen, daß er die Aufsätze der 4c korrigierte, aber er hatte vergessen, die Hefte mit nach Hause zu nehmen. Es fiel ihm erst wieder ein, als er auf der Straße stand und hinter ihrem gemeinsamen PKW herwinkte, den Sabine gerade um die Ecke steuerte. Er sah hinauf zu den immer kräftiger aufziehenden Gewitterwolken und dachte wieder an die Tage, an denen Sabine ihn von der Notwendigkeit überzeugen wollte, einen Zweitwagen zu besitzen. Kröger hatte solche Ideen seiner Frau stets in ihren Entstehungsphasen abgeblockt; es gab seiner Meinung nach keinen treffenden Grund, ein zweites Auto zu kaufen und zu unterhalten. Sie hatten beide einen kurzen Weg zu ihren Arbeitsplätzen, den sie problemlos zu Fuß bewältigen konnten, und wenn nicht die großen Wocheneinkäufe gewesen wären, hätte Kröger sogar das eine Auto, das sie besaßen, in Frage gestellt. Er selbst benutzte es sowieso nur sehr selten. In der Regel überließ er es Sabine, während er mit dem Rad zur Schule fuhr oder – sogar noch lieber – zu Fuß ging. Und darauf lief es auch jetzt hinaus. Nachdem das Auto außer Sichtweite gekommen war, stand er noch einen Moment unentschlossen herum und führte einen stillen Disput mit seinem inneren Schweinehund, der ihm nahelegte, einfach wieder ins Haus zurückzugehen und sich die Stimmung an diesem Wochenende nicht durch die Lektüre zusammenhangloser Viertklässler-Satzfetzen noch depressiver zu gestalten. Dann entschied er sich spontan dagegen, holte schnell die Schulschlüssel und ein Kapuzensweatshirt aus dem Dielenschrank und beeilte sich, um möglichst schnell und vor allem möglichst trocken wieder zurückzukommen.

      Es hatte nicht viel gefehlt. Als er aus dem Schulgebäude gekommen war, hatte bereits ein leichter Nieselregen eingesetzt. Kröger hatte den Stapel blauer Schulhefte sicherheitshalber in eine Plastiktüte eingewickelt und nun einen gemäßigten Laufschritt eingeschlagen. Als er bereits auf Höhe von Schuhmanns war (und im festen Glauben, den Elementen ein Schnippchen geschlagen zu haben), erwischte ihn doch noch der Wolkenbruch. Er legte die letzten Meter bis zur Haustür im schnellen Sprint zurück, aber als er endlich aufgeschlossen hatte, war er bereits naß bis auf die Haut.

      War’s das wert, Dummkopf? fragte eine Stimme in seinem Kopf, aber Kröger ließ erst gar keine Selbstkritik aufkommen. Es hätte schließlich auch bedeutend schlimmer kommen können. Etwa, wenn ihn der Platzregen bereits vor der Schule überrascht hätte. Außerdem konnte er jetzt auch nichts mehr daran ändern. Er mußte zusehen, daß er aus den nassen Klamotten und unter die heiße Dusche kam. Danach würde die Welt schon gleich viel freundlicher aussehen.

      Tatsächlich fühlte er sich wie ein neuer Mensch, als er aus der Dusche kam. Er trug den flauschigen Frotteebademantel seiner Frau, rubbelte sich mit einem großen Badehandtuch die Haare trocken und sah genüßlich aus dem Schlafzimmerfenster in den Garten der Schuhmanns hinunter, in dem rege Betriebsamkeit herrschte. Seine Nachbarn hatten offenbar eine kleine Gartenparty geplant gehabt, die aber nun wortwörtlich ins Wasser fiel. Kröger hatte sich bereits nach dem Aufstehen über den unverhohlenen Optimismus gewundert, mit dem Familie Schuhmann ihre Gartenmöbel aufstellte, den Holzkohlegrill aus dem Geräteschuppen bugsierte und sogar schon einen großen Pappkarton mit bunten Lampionketten bereitstellte. Der Wetterdienst hatte schwere Schauer und Gewitter vorhergesagt, und dieser Samstag schien der denkbar schlechteste Wochentag zu sein, um unter freiem Himmel zu sitzen, Bratwürste zu grillen und vom Kartoffelsalat zu naschen. Jetzt liefen sie umher und versuchten, den entstehenden Schaden in Grenzen zu halten. Kröger empfand eine gewisse Genugtuung beim Anblick seiner Nachbarn, die durcheinanderliefen wie aufgeschreckte Hühner in Gegenwart des Fuchses. Bernd Schuhmann hielt sich für unglaublich clever, vielleicht war er mittlerweile schon so größenwahnsinnig, daß er glaubte, sogar das Wetter habe sich nach ihm zu richten – und nicht umgekehrt. Es tat gut, zuzusehen, wie Mister Perfect mal auf die Schnauze fiel.

      Nachdem Kröger in Ruhe gefrühstückt und dabei die Zeitung vom Vortag gelesen hatte, begann er zunächst mißmutig mit der Durchsicht der Aufsätze, die er unter Einsatz seiner Gesundheit nach Hause geholt hatte. Nach den ersten Zeilen und den ersten Strichen seines Rotstiftes verließ ihn aber schnell die notwendige Konzentration. Das Wetter hatte etwas Behagliches, solange man es gemütlich von dieser Seite des Fensters aus beobachten konnte. Der Himmel war dermaßen mit dicken, schwarzen Gewitterwolken beladen, daß es so finster wie in tiefster Nacht geworden war. Und im Schein der Schreibtischlampe, die sein Arbeitszimmer in ein angenehmes, warmes Licht hüllte, stellte Kröger plötzlich fest, daß das nicht die Stimmung war, in der man Schulaufsätze korrigieren sollte. Es war die passende Stimmung, um sich einen faulen Tag zu machen. Mittlerweile hatte er zum Bademantel seiner Frau auch noch die zugehörigen Frotteepantoffeln angezogen. Kröger fand, daß er in beidem reichlich schwul aussah, aber er würde heute nicht mehr vor die Tür (noch nicht mal mehr an die Tür) gehen; warum also sollte er sich darin nicht auch mal wohl fühlen dürfen, vor allem, da er jetzt einmal die Gelegenheit dazu hatte. Er ging ins Schlafzimmer und schob Federbetten und Kopfkissen wie ein menschlicher Bagger zu einem Berg am Kopfende des Bettes zusammen. Dann griff er aus der Reihe von Videocassetten unter dem kleinen Fernseher wahllos ein paar heraus, überflog die Aufkleber und legte die Bänder dann der Reihe nach wieder weg, bis er das letzte davon in den Recorder schob. Schließlich schlurfte er in die Küche zurück, kochte sich eine große Tasse Tee, holte das Popcorn aus dem Schrank und hörte dann zu, wie die aufplatzenden Maiskörner in der Mikrowelle einen Trommelwirbel entfachten. Als er mit Tee und Popcorn letztendlich in das Schlafzimmer zurückkehrte, schaltete er den kleinen Fernseher ein, startete das Videoband und machte es sich auf dem Bett bequem wie ein orientalischer Pascha. Er nippte an dem dampfenden Tee, knabberte sein Popcorn, und wenn ihm eine oder zwei der Maisflocken auf das Bettuch fielen, fegte er sie mit dem Handrücken einfach hinunter auf den Bettvorleger. Sabine würde einen Schlaganfall kriegen, wenn sie sehen könnte, was er hier anstellte. Erstaunlicherweise empfand Kröger ein besonderes Gefühl des Wohlbehagens bei der Wiederbelebung seiner schlechten Manieren, die er mit dem Tag seiner Hochzeit sukzessiv abgelegt hatte. Nun war es wie ein freudiges Wiedersehen mit alten Bekannten, die man seit Jahrzehnten aus den Augen verloren hatte. Er stellte sich vor, wie Sabine sich in der übernächsten Nacht auf einen vergessenen Brocken Popcorn drehen würde, wie sie mit der ihr eigenen Mischung aus Überraschung und Empörung »Was ist das denn?« fragen würde und wie er daraufhin herumdrucksen und sich in Ausflüchten winden würde wie ein Wurm am Haken. Kröger fand diese Vorstellung außerordentlich amüsant und kicherte still in sich hinein. Trotzdem mußte er natürlich zusehen, daß er den Raum wieder in seinen Urzustand zurückversetzte. Aber das konnte er auch noch morgen tun.

      Einstweilen genoß Kröger seinen selbsterwählten faulen Tag wie ein unverhofftes Geschenk. Man konnte dem schlechten Wetter durchaus seine guten Seiten abgewinnen, wenn man es einfach ausschloß und es sich dann gemütlich machte. Es war genauso wie mit Raumschiff Enterprise. Wenn man nicht laufend zwanghaft daran dachte, daß Spocks Ohren nur angeklebt waren und die Schauspieler in Sperrholzkulissen agierten, dann gewann die alte Fernsehserie den Charme und die Faszination zurück, die Kröger zuletzt in seiner Jugend damit verbunden hatte.

      Dann fiel der Gartenstuhl um. Kröger wandte den Kopf ein wenig, lächelte schadenfroh und sah dann wieder auf die Mattscheibe, auf der Kirk, Spock und Pille gerade in eine geheimnisvolle Höhle auf einem fremden Planeten vordrangen. Kröger hatte sich schon als Jugendlicher gefragt, warum immer nur die wichtigsten Männer des Schiffes auf die gefährlichsten Missionen gingen. Er hatte nie eine Antwort auf seine Frage gefunden, und auch diesmal kam er nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Im Garten der Schuhmanns war wieder etwas passiert. Jetzt war es nicht das hohle Poltern umfallender Kunststoffteile, sondern diesmal war definitiv etwas kaputtgegangen. Es war ein scharfes und häßliches Geräusch. Kröger stellte die Tasse auf den Nachttisch, erhob sich behäbig von seinem Lager und schlurfte zum Fenster hinüber. Es war die reine Neugierde. Er wollte nur wissen, worüber sich Schuhmanns ärgern würden, wenn das Unwetter vorüber war.

      Zunächst war es nicht viel, was er erkannte. Der Regen war so stark, daß er wie ein grauer Vorhang wirkte, dazu war es noch immer stockfinster, und wenn Schuhmanns auch ihre Nachbarn waren, so lag ihr Haus immerhin noch gute zwanzig Meter Luftlinie von dem ihren entfernt. Kröger erkannte die weißen Monoblock-Plastikmöbel, die jemand mit den Beinen nach oben auf den Gartentisch gestellt hatte wie ein Kellner die Stühle nach Feierabend. Jetzt lagen drei davon wie umgekippte Schildkröten auf dem Rasen, der unter dem Einfluß des Unwetters immer mehr zum Sumpf wurde. Ein paar Pappteller wirbelten herum wie buntes Herbstlaub. Dann sah Kröger den großen Pappkarton mit der Lampionkette darin. Schuhmann hatte vergessen, ihn in den Schuppen zurückzustellen. Er war natürlich völlig aufgeweicht, und seine Pappwände hingen traurig an ihm herunter wie welke Salatblätter. Zu allem Überfluß schien irgend etwas in ihn hineingefallen zu sein (und hatte dabei das Getöse verursacht). Wahrscheinlich würde Bernd Schuhmann seine Kirmesbeleuchtung morgen direkt in die Mülltonne umladen können. Kröger versuchte zu erkennen, was den Schaden verursacht hatte. Eigentlich konnte es nur ein abgebrochener Ast gewesen sein, vielleicht aber auch so etwas wie eine Dachpfanne, die der Wind aus Schuhmanns Eindeckung gezogen hatte wie ein Dentist einen kariösen Zahn. Irgendwie stellte Kröger fest, daß er sich wünschte, es würde eine Dachpfanne gewesen sein.

      Wünsch dir lieber, daß sie nicht von deinem Dach stammt, Blödmann, sagte die Stimme in seinem Kopf.

      In diesem Moment glaubte Kröger zu sehen, daß sich etwas in dem aufgeweichten Karton bewegte. Er hielt es zunächst für nicht mehr als eine optische Täuschung, ein im Wind flatterndes Pappstück etwa oder ein Ende der Lichterkette.

      Dann erkannte er, daß es ein Arm war.

      Kröger zuckte ungläubig mit dem Kopf ein Stück vor wie eine Taube und stieß dabei mit der Stirn an das kühle Fensterglas. Aus dem Karton in Schuhmanns Garten schob sich langsam ein sehr langer, dünner Arm, an dessen Ende eine knochige, langfingrige Hand saß. Es war wie die Zeitrafferaufnahme einer wachsenden Sonnenblume. Der Arm hob sich weiter himmelwärts, bis er etwa Mannshöhe erreicht hatte. Dann knickte er am Ellbogengelenk ein und ließ seine häßliche, sehnige Hand in eine der Pfützen fallen, die sich auf der schon längst gesättigten Rasenfläche gebildet hatten.

      »Was um Himmels Willen ist das denn?« hörte Kröger sich leise sagen und dachte dabei bizarrerweise an Sabine, die neben ihm im Bett lag und in langen Fingern einer sehnigen Hand ein Stück Popcorn hielt.

      Während die Hand bewegungslos im Matsch lag, stieg ein zweiter Arm aus dem Pappkarton empor, ebenso dürr und von der gleichen, ans Groteske grenzenden Länge wie der erste. Die zweite Hand drehte sich ganz leicht im Handgelenk hin und her wie die Antenne einer Radarstation. Dann, nachdem der Arm sich in quälender Langsamkeit aufgestellt hatte wie ein Fahnenmast, beugte auch er sich und ließ die Hand widerstandslos auf dem Boden aufschlagen, wo sie etwa zwei Meter von der anderen entfernt liegenblieb.

      Ein stechender Schmerz in Krögers Brust erinnerte ihn daran, daß er tatsächlich das Atmen eingestellt hatte. Sein rational arbeitender Verstand versuchte, sich eine Erklärung für das Gesehene zu schaffen, und obwohl er ganz gut darin war, sich auch für die ungewöhnlichsten Phänomene eine zumindest in der Theorie glaubhafte Lösung auszudenken, versagte er diesmal kläglich. Vor allem, als er den Körper sah, zu dem die Arme gehörten.

      Die Kreatur war, gemessen an der stattlichen Länge ihrer Extremitäten, klein. Nachdem die beiden Arme sich vor dem Karton aufgestellt hatten wie ein großes, sehniges M, begann sich zwischen ihnen in gleichbleibender Behäbigkeit der zugehörige Körper zu erheben. Es war ein muskulöser Brustkorb, auf dem ein kahler, halsloser Schädel saß. Damit erschöpften sich dann aber auch schon etwaige Ähnlichkeiten mit einer menschlichen Gestalt. Ungefähr an der Stelle, an der bei einem Menschen die Hüfte begonnen hätte, hörte der Körper der Kreatur einfach auf. Sie schien, soweit Kröger das unter den schwierigen Bedingungen feststellen konnte, nackt zu sein. Es war nicht auszumachen, ob sie eine Nase hatte. Oder Ohren. Oder etwa Genitalien. Die Haut kam ihm wie von hellgrauer Farbe vor, aber bei diesem kaum vorhandenen Licht hätte sie genausogut neongelb sein können und wäre ihm trotzdem nur als grau erschienen. Das erschreckende Aussehen der fremdartigen Kreatur erinnerte Kröger zwangsläufig an das einer Hausspinne mit ihrem winzigen Körper und den langen, hauchfeinen Beinchen. Nur hatte die Kreatur dort unten keine acht Beine. Sie hatte überhaupt keine Beine. Dafür allerdings zwei monströse Arme, die aus ihren Schultern ragten wie zwei Krane. Der kleine Körper schwang einen Moment zwischen seinen Armen in der Luft wie eine Kinderschaukel. Dann ließ er sich zwischen die beiden Hände auf den Boden fallen. Kröger erkannte, daß er kaum größer war als eine der Hände lang. Die Kreatur blieb einen Moment orientierungslos auf dem Rasen liegen. Dann, als hätte sie einen spontanen Plan gefaßt, bewegte sie sich ebenso geschickt wie unerwartet behende auf Schuhmanns Haus zu. Sie schleuderte ihre beiden Arme gleichzeitig in hohem Bogen voraus wie zwei fleischige Enterhaken und zog den kleinen Körper dann einfach über den Boden nach, wo er eine matschig-feuchte Schleifspur hinterließ. Bei der enormen Armeslänge der Kreatur mußte sie dieses Manöver nur etwa dreimal durchführen, bis sie die Fassade erreicht hatte. Dann schwang sie ihre gräßlichen Hände hinauf und zog den Körper wiederum nach, bis ihre plötzlichen Bewegungen schlagartig aufhörten und sie, reglos an der Fassade klebend wie ein tropischer Gecko, knapp über dem Küchenfenster in eine trügerische Starre verfiel. In diesem Moment sah Kröger, daß das Ding dort nicht alleine war. Eine zweite Kreatur, ebenso grotesk und unheimlich wie die, die er die ganze Zeit beobachtet hatte, kauerte bereits weiter oben am Giebel des Hauses. Vielleicht war es diejenige, die Schuhmanns Gartenstühle umgeworfen hatte.

      Der Fotoapparat, Blödmann, kam ihm die Stimme in seinem Kopf plötzlich von der praktischen Seite. Mach’ ein Foto davon. Das glaubt dir sonst kein Mensch.

      Kröger überlegte krampfhaft, in welcher Schublade Sabine die Fotoausrüstung aufbewahrte, als etwas vom Himmel fiel und so heftig auf dem Rasen in der Nähe von Schuhmanns Gartenzaun einschlug, daß es dabei eine knöcheltiefe Mulde formte. Kröger spürte, wie sich sein Hals langsam zuzog, so daß es ihm schwerfiel, zu schlucken. Zwei lange, graue Arme entfalteten sich zögerlich wie die Flügel eines Schmetterlings und bildeten dann wieder ein großes M, in dessen Mitte der kleine, bösartig aussehende Körper hing.

      Sie fallen vom Himmel, fuhr es ihm in einer grauenvollen Erkenntnis durch den Kopf. Großer Gott, sie fallen vom Himmel wie riesige, fleischgewordene Hagelkörner.

      Er legte die Schläfe an das Fensterglas und sah angestrengt zum Himmel hinauf, ohne genau zu wissen, was er dort eigentlich zu entdecken hoffte. Aber er sah nichts. Nichts, außer kohlrabenschwarzen Gewitterwolken, in denen es düster grollte – und aus denen der Regen in unbestimmten Abständen langarmige, graue Kreaturen mit auf die Erde brachte. Kröger zog die schweren Vorhänge zu und spürte seinen Herzschlag bis zum Kehlkopf hinauf. Er empfand einen dringlichen, inneren Antrieb, der ihn dazu verleitete, irgend etwas zu unternehmen. Er mußte ein Foto machen, richtig? Vielleicht sollte er aber auch besser die Polizei anrufen, damit sie sich das hier ansehen konnte. Oder womöglich war es besser, sich einfach wieder ans Fenster zu stellen und zuzusehen, was da draußen geschah. Kröger merkte, daß er, der sich selbst für einen außerordentlich besonnenen Menschen hielt, geradewegs dabei war, in Panik zu verfallen. Er fuhr sich nervös mit zitternden Fingen durch die Haare. Nach dem Duschen waren sie getrocknet, während er auf dem Bett gelegen hatte. Nun waren sie wieder feucht. Der Schweiß war kalt und klebrig.

      Mach was, feuerte ihn seine innere Stimme wieder an. Du kannst hier nicht einfach rumstehen und warten, bis du vor lauter Angst zu einem zitterigen Klumpen geworden bist. Mach irgendwas. Alles ist jetzt besser, als gar nichts zu tun. Er atmete tief und stakkatoartig aus. Ruf Schuhmann an, fuhr es ihm in den Sinn. Es ist sein Garten und sein Haus. Also laß es auch sein Problem sein.

      Kröger hielt das für eine gute Idee. Er eilte die Treppe ins Erdgeschoß hinunter, wobei er einen Pantoffel verlor und beinahe gestürzt wäre. Dann schleuderte er den zweiten hektisch von seinem Fuß wie ein austretendes Pferd und riß das Telefonbuch aus dem kleinen Dielenschränkchen, bevor er damit wieder zurück ins Schlafzimmer rannte. Es wäre durchaus naheliegender und einfacher gewesen, Schuhmann vom Telefon in der Diele aus anzurufen, aber Kröger fühlte sich sehr beunruhigt, nicht weiter beobachten zu können, was dort drüben vor sich ging. Also benutzte er den Apparat, den sie im Schlafzimmer hatten. Er suchte die Rufnummer heraus und zwang sich zu einem Augenblick besonderer Konzentration. Seine Finger fühlten sich so unnütz und zerbrechlich an wie vertrocknete Rosenzweige, und sie hinterließen kleine Schweißränder auf den Tasten. Dann kam das Freizeichen. Einmal. Zweimal.

      »Schuhmann«, meldete sich sein Nachbar am anderen Ende.

      »Hallo Herr Schuhmann«, sagte Kröger mit belegter Stimme. »Hier ist Kröger. Gernot Kröger.«

      Komm schon, sagte die Stimme in ihm. Zeig ihm doch nicht mit aller Gewalt, daß du dir gerade in die Hosen scheißt.

      »Herr Kröger?« fragte Schuhmann mit deutlichem Erstaunen, bevor er eine quälend lange Pause einlegte. Schließlich fragte er: »Ist etwas passiert?«

      Kröger telefonierte nicht gerade oft mit seinen Nachbarn. Tatsächlich konnte er sich nur an einen einzigen Anlaß erinnern, zu dem er es getan hatte. Es war im Sommer vor drei oder vier Jahren gewesen, als Sabine zufällig gesehen hatte, wie jemand den Schäferhund der Krögers angefahren hatte. Sie war sofort auf die Straße gelaufen, um das Tier zu versorgen, und er hatte die Aufgabe übernommen, Schuhmanns die schlechte Nachricht zu überbringen. Kein Wunder also, daß Bernd Schuhmann ein Unheil vermutete, da es mal wieder soweit war.

      Kröger gewann etwas von seiner verlorengegangenen Fassung zurück. »Da ist irgend etwas an Ihrer Hauswand«, sagte er geradeheraus.

      Schuhmann schien einen Augenblick zu überlegen. Kröger hörte, wie im Hintergrund Peter Alexander alte Schlager sang. »Oh«, übertönte Schuhmann plötzlich wieder die Musik und klang irgendwie fröhlich und erleichtert dabei. »Wir haben ein Schwalbennest«, erklärte er. »Das sehen Sie wahrscheinlich.«

      »Ich denke nicht, daß es ein Schwalbennest ist«, druckste Kröger herum.

      Was soll der Quatsch? Es sind beinlose Kreaturen mit Händen und Armen, die aussehen, als ob sie damit auf der Streckbank gewesen wären. So sieht ganz eindeutig kein Schwalbennest aus, oder, Dummkopf?

      »Es ist sicher kein Grund, sich Sorgen zu machen«, wiegelte er jetzt leicht ab und trug das Telefon dabei wieder ans Fenster zurück. Er klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter und zog einen der Vorhänge verstohlen ein Stück zu Seite. Dann sah er durch den entstandenen Spalt hinaus wie ein feiger Voyeur. Der Regen war zwischenzeitlich noch eine Spur stärker geworden. Und mit den anschwellenden Wassermengen waren auch größere Gruppen der grauen Kreaturen gekommen. Inzwischen waren es Dutzende. Sie klammerten sich an Schuhmanns Haus und bildeten ein Relief aus Leibern, das so dicht war, daß man die eigentliche Fassade darunter nicht mehr erkennen konnte. Aus unerfindlichen Gründen sparten sie dabei aber die Fensterflächen aus, formten mit ihren langen Armen sogar ordentliche rechte Winkel um die Fenster herum und erinnerten in ihrer allgemeinen Bewegungslosigkeit an die Steinfiguren, die gotische Kirchen zierten. Und es wurden mehr. Immer mehr. Von Augenblick zu Augenblick.

      »Ach du Scheiße«, stöhnte Kröger. Der Hörer rutschte ihm vom Ohr. Er versuchte, ihn aufzufangen und wirbelte dabei einen Moment mit dem Telefon herum, bevor er auch den Apparat aus den Fingern verlor und dieser scheppernd neben den Hörer auf den Boden fiel.

      Na, wenn das kein Grund ist, sich Sorgen zu machen, was dann? Eine Atombombe auf dem Dach vielleicht?

      »Kröger?« krächzte es verhalten vom Bettvorleger her. »Sind Sie noch da?«

      Kröger hob den Hörer auf und ließ das Telefon an der Spiralschnur hüpfen wie ein Jojo. »Schuhmann«, keuchte er. »Seien Sie bloß vorsichtig. Seien Sie um Gottes willen vorsichtig!«

      »Jaja«, antwortete sein Nachbar gelangweilt, und Kröger konnte förmlich spüren, wie er mit genervtem Gesichtsausdruck seine Familie ansah und mit dem Zeigefinger kleine, kreisende Bewegungen an der Stirn vollführte. »Ich seh’ mir das mal an. Keine Sorge. Vielen Dank für den Hinweis.«

      Schuhmann hängte ein, und Kröger biß sich auf die Unterlippe, während er noch immer den Hörer an das Ohr preßte und das monotone Tut-Tut der unterbrochenen Leitung durch seinen Gehörgang streunen ließ. Sein Nachbar hielt ihn für bescheuert. Oder für volltrunken. Es war nicht zu überhören gewesen.

      Was ist, wenn er Recht hat? beunruhigte ihn seine innere Stimme. Was ist, wenn da gar nichts ist? Was, wenn du der einzige bist, der sie sieht? Was wirst du tun, wenn sich herausstellt, daß du paranoid geworden bist?

      Kröger schüttelte heftig den Kopf, als wären die unliebsamen Gedanken nichts weiter als Schneeflocken in den Haaren. Es änderte aber nichts an den Fakten: entweder waren diese Kreaturen real oder er war verrückt. Er wußte nicht, welche der beiden Möglichkeiten ihm lieber sein sollte.

      Kröger bemühte sich nicht, den Telefonapparat aufzuheben und ordentlich an seinen Platz zurückzustellen. Statt dessen ließ er auch den Hörer ganz einfach wieder auf den Fußboden fallen. Er brachte es nicht fertig, seinen Blick auch nur für eine Sekunde vom Nachbarhaus zu nehmen. Nicht jetzt, da etwas geschehen mußte (und auch etwas geschehen würde, sofern Schuhmann es nicht für Zeitverschwendung hielt, dem Hinweis eines Mannes nachzugehen, den er offenkundig für übergeschnappt hielt). Vom Schlafzimmerfenster aus konnte Kröger die Seitenfront des Nachbarhauses sehen, an der es drei Fenster gab: das der Küche im Erdgeschoß und die der beiden Kinderzimmer in der ersten Etage. Er sah auch noch ein kleines Stück der rückseitigen Front und einen Teil des Daches, das einstmals blaue Schindeln getragen hatte. Jetzt bestand es nur noch aus grauen Händen, aus dürren Armen und muskulösen Körpern mit kahlen Köpfen darauf. Durch die Vielzahl an Kreaturen begann das Gebäude zudem, seine festen Konturen zu verlieren. Bis auf die Stellen, an denen die streng geometrischen Umrisse der Fenster ausgespart geblieben waren. Kröger fühlte sich unweigerlich an ein Bild erinnert, das er vor Jahren einmal in einem Magazin gesehen hatte: es war das Foto eines Imkers gewesen, der sich die Bienenkönig auf sein Kinn gesetzt hatte. Das Bienenvolk hatte daraufhin begonnen, sich in immer größeren Schichten um ihr Staatsoberhaupt zu scharen. Der Imker hatte einen langen Bart aus Bienen bekommen, der nur so wimmelte vor lauter Insekten. Sie klebten an seinem Kinn und um seine Lippen herum, und wie immer er sich auch verhielt – er würde gut daran tun, den Mund geschlossen zu halten.

      Geschlossen zu halten, Dummkopf!

      In diesem Moment wurde das Licht im linken Kinderzimmer eingeschaltet. Es malte einen kränklich gelben Akzent in eine surreale Welt, die nur aus schwarzen Wolken und grauen Leibern bestand. Kröger konnte die Umrisse von Bernd Schuhmann erkennen, der in der Tür zum oberen Flur erschien und jetzt zügig auf das Fenster zukam.

      Er wird es nicht öffnen. Auf keinen Fall. Er wird seine unrasierte Wange einfach daranlegen, so wie du es vorhin selbst gemacht hast. Dann wird er sie sehen. Und dann wird er ... nun, irgendwas wird er schon machen, nachdem er sie gesehen hat. Nachdem er sie zumindest gesehen hat.

      Schuhmann sah tatsächlich heraus. Aber er legte sein Gesicht nicht an das Glas. Er stützte sich mit beiden Händen am Fensterrahmen ab und sah kurz zu den Gewitterwolken hoch.

      Und dann machte er das Fenster auf.

      Sie verhielten sich wie ein gewaltiger Vogelschwarm, der ruhig in den Wipfeln der Bäume gesessen hatte, bis plötzlich ein Schuß durch den Wald gekracht war. Bernd Schuhmann hatte das Fenster höchstens eine Handbreit geöffnet gehabt, als das obskure Mosaik, das sein Haus eingehüllt hielt wie eine Spinne die unachtsame Stubenfliege, schlagartig aus der selbstgewählten Totenstarre erwachte. Sie stießen das Fenster auf und stürzten in das Haus hinein, als befände sich darin ein monströser Staubsauger, der sie von Dach und Fassade saugte. Es sah aus wie das ablaufende Wasser in einer Badewanne. Und sie kamen von allen Seiten. Dort, wo Kreaturen gekauert hatten, die sich bereits ihren Weg ins Innere hatten bahnen können, quollen bereits die nächsten nach. Die Dachflächen waren in ständiger Bewegung, unzählige Hände wurden in den Himmel geworfen wie Silvesterraketen, knochige Finger krallten sich an Dachpfannen oder an die Körper anderer Kreaturen, und dann zogen und rissen sie ihre Körper mit einer Vehemenz vorwärts, in der eine ungezügelte Lust stand – eine Gier nach etwas, das sie nur im Innern des Hauses erlangen konnten. Sie brachen hinein wie eine Woge aus Fleisch. Von unten. Von den Flanken. Und kopfüber. Das trübe Licht im Kinderzimmer, das gewirkt hatte wie ein bleicher Senfklecks auf einer Schwarzweißfotografie, war schon im allerersten Moment wieder erloschen, als die Deckenlampe im Mahlstrom der Arme fortgerissen worden war wie eine Blume im Wirbelsturm. Dann tauchte das Haus wieder auf. Ganz langsam und allmählich von der Kröger abgewandten Schmalseite her. Das unheilvolle Leichentuch, welches das Gebäude bedeckt gehalten hatte, wurde immer schneller in das offene Fenster hineingezogen und verschwand schließlich vollständig darin. Kröger glotzte mit starrem, ungläubigem Blick auf das schwarze Rechteck in der Wand dort drüben. Es mußten Hunderte gewesen sein. Und alle waren sie nun dort drinnen. Ebenso wie Bernd Schuhmann und seine Familie.

      In diesem Moment fiel etwas auf sein Dach. Etwas Großes, Schweres. Kröger sah langsam zur Zimmerdecke hinauf, als glaubte er, hindurchsehen zu können. Es war ein einzelner, dumpfer Aufprall gewesen, dem eine bedrückende Stille gefolgt war. Kröger lauschte ihr so angestrengt nach, daß er erschrocken zusammenfuhr, als aus dem Fernseher ein schriller Schrei ertönte (ein weibliches Besatzungsmitglied der Enterprise war auf ein Pappmaché-Ungeheuer gestoßen, das aus dem Luftschacht krabbelte). Er sah ebenso verärgert wie auf eine gewisse Art erleichtert zu dem kleinen Gerät hinüber, als sich die Stimme in seinem Kopf wieder meldete:

      Der Fernseher, Dummkopf! Schau dir die Nachrichten an. Sie müssen davon berichten. Vielleicht haben sie sogar das laufende Programm dafür unterbrochen.

      Mit einem Mal wachte Kröger aus der Lethargie wieder auf. Er hieb auf die Austaste des Videorecorders und schaltete den Satellitenreceiver ein. Das Fernsehbild blieb schwarz. Er schaltete auf einen anderen Kanal, dann auf den nächsten und den übernächsten. Aber auf allen Programmen blieb das Bild einfach nur schwarz. Die dicken Gewitterwolken, dachte Kröger. Kein ausreichendes Satellitensignal wegen des schweren Unwetters. Es war ein Effekt, den sie in Herbst und Winter des öfteren beobachten konnten, wenn ein Unwetter aufzog.

      Du weißt, daß es nichts mit dem Gewitter zu tun hat, oder, Blödmann? Etwas sitzt über dir auf dem Dach und bedeckt die Satellitenschüssel mit seinem grauen Körper. Du weißt es, nicht wahr? Warum belügst du dich?

      Kröger stand da und starrte auf die schwarze Mattscheibe, so als ob er jeden Moment mit einer Wiederkehr des Fernsehbildes rechnen könnte. Doch es schien, als ob das TV-Gerät die Wiedergabe des laufenden Programmes ebenso verweigerte, wie auch sein Gehirn es nicht zulassen wollte, daß er auch nur einen einzigen logischen und zusammenhängenden Gedanken fassen konnte.

      In diesem Moment teilte eine scharfe Klinge aus Sonnenlicht die schweren Vorhänge des Schlafzimmers, drang tief in den Raum herein und strahlte mit einer solchen Helligkeit auf den Bildschirm, daß Kröger geblendet die Augen zusammenkniff und dabei eine leise Verwünschung murmelte.

      Dir ist nicht klar, worüber du dich da beklagst, oder? wies es ihn aus seinem Innersten zurecht. Die Sonne scheint, Dummkopf. Das bedeutet, daß sich die Regenwolken verziehen. Kein Regen. Keine grauen Kreaturen, die vom Himmel fallen. Keine Gefahr. Keine Angst.

      Kröger ging wieder zum Fenster zurück und versuchte instinktiv, möglichst unauffällig hinauszuschauen. Tatsächlich hatte es aufgehört, zu regnen. Die Wolkendecke riß mit solch wachsender Geschwindigkeit auf, daß man dabei zusehen konnte, und schließlich drifteten die letzten verbliebenen Wolkenfetzen auseinander wie schmelzende Eisschollen in einem endlosen, blauen Ozean. Honiggelbes Sonnenlicht bestrich die Landschaft. Reflektiert von den abermillionen winziger Prismen auf Halmen und Blütenblättern drang es in jeden Winkel, verdrängte die letzten Schatten, und der Regenbogen, der den strahlend blauen Himmel schmückte, wirkte wie das verlockende Band über der Ziellinie eines ermüdenden Wettlaufes. Kröger tastete mit seinem Blick jeden Quadratmeter ab, dessen er nur gewahr werden konnte. Nichts von dem, was er sah, ließ darauf schließen, daß etwas Ungewöhnliches (etwas Bedrohliches) geschehen war. Das Haus der Schuhmanns wirkte im strahlenden Sonnenlicht jetzt sogar auf eine besondere Art friedlich und einladend. Kröger glaubte, durch dessen geöffnetes Fenster im Obergeschoß nun sogar das Motiv auf Schuhmanns Kinderzimmertapete erkennen zu können. Es gab keine Spur von häßlichen, grauen Fratzen. Keine langen Arme und beinlose Körper. Nur Stille, Harmonie und wohltuende Normalität.

      Aber wo sind sie hin? Lösen sie sich im Sonnenlicht auf wie die Vampire in den Gruselfilmen? Schmelzen sie wie Schneeflocken? Was ist mit ihnen passiert? Und warum ist das Fernsehbild noch immer nicht da?

      »Ruhe!« schrie Kröger und die mahnende, bohrende Stimme in seinem Innern verstummte abrupt. Es war nebensächlich, was mit den Kreaturen geschehen sein mochte. Wichtig war allein, daß sie nicht mehr da waren. Und auch für das gestörte Antennensignal mochte es eine Vielzahl an denkbaren Erklärungen geben. Vielleicht hatte sich die Satellitenschüssel ein Stück gedreht und mußte jetzt einfach nur wieder neu ausgerichtet werden. Das war die erste Möglichkeit, die ihm in den Sinn kam, und er hielt sie direkt für so glaubwürdig, daß er auch gar nicht weiter über das Problem nachdachte. Es war vorbei. Endlich vorbei.

      Gernot Kröger stand hinter der geschlossenen Haustür. Seine nackten Füße, die sich auf den kalten Fliesen wie abgestorben anfühlten, bildeten einen Gegenpol zu seinem vor Anspannung und innerer Erregung glühenden Gesicht. Dort, wo beide Klimazonen aufeinandertrafen, klopfte sein Herz so schnell und so laut wie das ferne Stampfen eines Dampfschiffes. Seine Hand umklammerte die Klinke so fest, daß die Knöchel sich von ihr abzeichneten wie kleine Kreidefelsen.

      Kröger hatte gewartet. Lange. Es war fast eine Viertelstunde gewesen, in der er angestrengt nach draußen gestarrt, sich die Ursache einer jeden Bewegung erklärt hatte – und wenn es auch nur ein sich leicht im Wind wiegender Ast gewesen war. Mit der Zeit war er ruhiger geworden, obwohl es ab einem gewissen Punkt gerade diese neu eingetretene Ruhe und Bewegungslosigkeit war, die ihm zu einer subtilen, unheimlicheren Art von Besorgnis Anlaß zu geben schien. Dann hatte er nacheinander aus den anderen Fenstern des Hauses gesehen. In den eigenen Garten oder zu den alten Bäumen auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinüber. Doch nirgends hatte er etwas entdeckt, das auch einer allzu pedantischen Skepsis hätte Nahrung bieten können. Und so hatte er letztendlich beschlossen, seinen Mut zusammenzunehmen und kurzerhand draußen nachzusehen.

      Kröger drückte die Klinke hinunter und öffnete die Haustür einen kleinen Spalt. Sein Herz hämmerte stakkatoartig auf der Höhe seines Kehlkopfes. Bunte Lichtblitze tanzten vor seinen Augen wie irrsinnige Derwische. Dann fiel ein Sonnenstrahl in die Diele, traf seinen rechten Fuß und umschmeichelte ihn mit einer zärtlichen Wärme. Im Sog des Lichtes strömte Luft herein, die so frisch und so sauerstoffreich war, daß Kröger spürte, wie seine Lebensgeister, einer nach dem anderen, ihre ursprüngliche Kraft zurückgewannen, kaum daß sich seine Lungenflügel vollständig aufgebläht hatten. Er öffnete die Tür nun zur Gänze, badete im Sonnenlicht und trank die frische Luft in großen Zügen wie ein Verdurstender das kühle Quellwasser. Dann trat er einige Schritte vor das Haus, schloß die Augen und lauschte der Stille, die ein Ende fand.